Domenico Scarlatti

Domenico Scarlatti (1685–1757) ist zwar im gleichen Jahr geboren wie Bach und Händel, nimmt aber unter den Komponisten des Barock eine Sonderstellung ein. Seine Musik für Cembalo ist von einer scheinbar sorglosen Spielfreude: virtuos, klangsinnlich und so gar nicht verkopft. Scarlatti selbst wendet sich in einer Druckausgabe mit folgenden Worten an den Musiker: „Ob Liebhaber oder Gelehrter, erwarte in diesen Kompositionen keine Tiefgründigkeit, sondern eher den geistreichen Spaß der Kunst der Übung der Freiheit auf dem Gravicembalo.“ Mit Gravicembalo ist das Cembalo gemeint – und dennoch ist es erstaunlich, dass Scarlattis Musik gerade auf dem modernen Konzertflügel so gut klingt. Alle großen Pianisten, allen voran Vladimir Horowitz, haben dafür den Beweis angetreten:

http://www.youtube.com/watch?v=Q29VWNd4RMo

Dass Scarlatti im Henle-Katalog nicht fehlen darf, liegt daher auf der Hand. In den Jahren 1985–1992 erschienen drei Bände mit Scarlatti-Sonaten (HN 395, 451, 476). Sie sind etwas ganz Besonderes: Bekannte Werke werden neben Raritäten gestellt – Band I enthält gar vier Erstausgaben! Für all jene, die sich nur mit den „Reißern“ des Repertoires befassen wollen, bieten wir inzwischen Einzelausgaben folgender Sonaten an: K. 9, K. 141, K. 159, K. 380.

Da viele Pianisten jedoch ihre Lieblingssonaten in unserer dreibändigen Auswahl vermissen, verfolgt das Henle-Lektorat schon seit Langem den Plan, einen vierten Band zu veröffentlichen, ein „Best of Scarlatti“. Im Vorfeld wurden Pianisten befragt und CD-Playlists durchpflügt; der Auswahlprozess aus dem schier unerschöpflichen Fundus von über 550 Sonaten war schwierig. Es gelang uns jedoch einen Band mit 32 der populärsten Sonaten zusammenzustellen, eine ultimative Auswahl, die unser Scarlatti-Programm effektvoll abrundet.

Waren die Vorarbeiten schon knifflig, so galt dies insbesondere für die Edition selbst. Scarlattis Sonaten sind in einer unübersichtlichen Zahl von Quellen, vorrangig Handschriften, überliefert – darunter befindet sich jedoch kein einziges Autograph. Einem größeren Publikum bekannt sind vielleicht die Prachtmanuskripte aus Venedig und Parma (Scarlatti-Quellen werden immer nach ihrem jetzigen Aufbewahrungsort benannt). Sie entstanden im unmittelbaren Umfeld des Komponisten und haben daher ein besonderes Gewicht. Darüber hinaus sind zahlreiche Sammel-und Einzelabschriften überliefert. Offenbar autorisierte Erstdrucke aus England und Frankreich ergänzen den großen Quellenbestand. Es wundert daher nicht, dass einige Sonaten unseres Bandes in neun Quellen überliefert sind.

Neun Quellen – das wäre leicht zu handhaben, wenn sich eindeutige Abhängigkeiten der Quellen untereinander feststellen ließen. Auf diese Weise könnte es gelingen, manche Abschrift als nicht editionsrelevant auszuschließen. Und in der Tat lassen sich immer wieder Überlieferungsstränge erkennen, die eine Gruppierung der Quellen zulassen. Dennoch enthält oft jede einzelne dieser Quellen Varianten, die sich nur dort finden und deren Herkunft nicht geklärt werden kann. Dass Scarlatti an diesen Varianten nicht beteiligt war, lässt sich in der Regel nicht beweisen. Die Vielzahl an möglicherweise authentischen Varianten muss also dokumentiert werden. Wir tun dies – wie schon in Band I–III – mithilfe eines ausführlichen Fußnotenapparates. Im eigentlichen Notentext hingegen steht jeweils das Werk gemäß einer für jede Sonate einzeln zu bestimmenden Hauptquelle.

Zwei besonders plakative Beispiele sollen hier stellvertretend den Variantenreichtum der Sonaten Scarlattis verdeutlichen.

Die g-moll-Sonate K. 8 ist in 7 Quellen überliefert. Die Abweichungen zwischen den Quellen sind so groß, dass gar von zwei Fassungen der gleichen Sonate gesprochen werden muss. Vier Quellen (darunter der wichtige Druck „Essercizi“ und die Abschrift Münster) überliefern Fassung 1, zwei Quellen (darunter der französische Druck von Boivin) überliefern Fassung 2. Die englische Ausgabe von Roseingrave schließlich bringt erstaunlicherweise beide Fassungen. Über dem zweiten Abdruck steht l’istesso Allegro. Differente. Es besteht also kein Zweifel, dass schon zu Lebzeiten Scarlattis (Roseingraves Ausgabe erschien 1739) beide Fassungen kursierten. Auch wir bringen daher die g-moll Sonate in zwei Varianten. Ein Blick auf die 1. Notenzeile macht die – hier vor allem rhythmischen – Unterschiede deutlich.

Sonate in g, K. 8, T 1-4

Sonate in g, K. 8 Variante, T 1-4

http://www.youtube.com/watch?v=jSFhOnzp5os

Die zahlreichen Lesarten zur virtuosen D-dur-Sonate K. 33 sind in insgesamt 8 Quellen überliefert. Dabei sticht besonders hervor, dass die Einleitung (T. 1–17) nur in zwei Quellen zu finden ist; die übrigen sechs Quellen beginnen mit T. 18.

Sonate in D, K. 33, T 1-21

Und sogar hinsichtlich der einleitenden 17 Takte sind die beiden Quellen uneins. Der oben abgebildete Notentext stammt aus der Hauptquelle, der Abschrift Venedig. Im Druck von Boivin steht hingegen über T. 16 Largo und das untere System enthält hier und im Folgetakt die Noten

 

Diese beiden Beispiele mögen genügen, die komplizierte Quellenlage zu den Sonaten Scarlattis zu illustrieren. Was einerseits Herausgebern unserer Tage Kopfzerbrechen bereitet, verrät andererseits etwas über den Stellenwert dieser Musik im Europa des 18. Jahrhunderts. Die Vielzahl zeitgenössischer Quellen zeugt von der großen Verbreitung der Sonaten Scarlattis – die Varianten deuten überdies auf eine lebendige Spielpraxis hin. Man ging kreativ mit der Musik um, aller Wahrscheinlichkeit nach unter Billigung ihres Schöpfers. Dies mag für Cembalisten und Pianisten unserer Tage durchaus Anregung und Ansporn sein!

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2 Antworten auf »Scarlatti-Sonaten Band IV – die ultimative Auswahl«

  1. Ziegelbauer Rolav Paul sagt:

    Ich suche zwei Scarlatti-Sonaten (Nrn leider unbekannt), gespielt von Alfred Cortot. Eine Schellack-78er-Platte, noch mit Longo-Verzeichnis, ging mir leider vor vielen Jahren in Brüche. Existieren diese noch und sind sie auch auf moderneren Tonträgern erhalten? Vielen Dank für eine Antwort. Rolav Ziegelbauer

    • Sehr geehrter Herr Ziegelbauer,
      leider können wir Ihnen da nicht helfen. Ein kurzer Blick in die einschlägigen Suchmaschinen brachte kein Ergebnis – vielleicht wenden Sie sich einmal an den Fachhandel?
      Mit freundlichen Grüßen,
      Norbert Müllemann

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