Auf die Frage, wieviel Cellokonzerte Joseph Haydn uns hinterlassen hat, gab es in den letzten 200 Jahren erstaunlich unterschiedliche Antworten: Haydns eigenes Werkverzeichnis von 1805 listet drei Konzerte auf, im 19. Jahrhundert wuchs die Zahl auf acht an, bevor sie sich im 20. auf jene fünf reduzierte, die man auch in Anthony van Hobokens Katalog der Werke Joseph Haydns findet. Unser Urtext-Katalog aber verzeichnet nur zwei! Woran das liegt? Die kurze Antwort lautet: Weil unsere Haydn-Urtext-Ausgaben auf die Gesamtausgabe Joseph Haydn Werke zurückgehen – und das nicht nur in dem, was gedruckt wird, sondern auch in dem, was nicht gedruckt wird. Die lange Antwort liefert Einblick in ein spezielles Gebiet der Haydn-Forschung: die Frage nach der Echtheit der unter seinem Namen gehandelten Werke.

Denn diese Echtheitsfrage ist bei Haydn so virulent wie bei kaum einem anderen der großen klassischen Meister – was vor allem zwei Gründe hat: Zum einen schuf Haydn in seinem langen Komponistenleben ein extrem umfangreiches Œuvre, dessen Katalogisierung ihm selbst später Schwierigkeiten bereitete und das heute zu großen Teilen nicht in Autographen, sondern nur in Abschriften oder späteren Drucken überliefert ist. Zum anderen war Haydns Ruhm spätestens ab den 1780er Jahren so groß, dass sein Name zum Verkaufsargument wurde. Kein Wunder also, dass clevere Verleger bei frisch aus der Presse kommenden Streichquartetten mal eben den Namen auf dem Cover zu Joseph Haydn änderten (wie es Antoine Bailleux bei den von Roman Hofstetter stammenden Quartetten „op. 26“ nachweislich tat!). Ob durch bewusste Fälschung, Versehen oder Unkenntnis – im Laufe des 19. Jahrhunderts tauchten immer mehr Werke unter Haydns Namen auf, bei denen die Echtheit fraglich war.

Und spätestens mit der durch Eusebius Mandyczewski 1908 initiierten „Ersten kritisch durchgesehenen Gesamtausgabe“ der Werke Joseph Haydns wurde die Echtheitsfrage dringend: Denn in eine Gesamtausgabe gehören nun mal nur die echten Werke! Während diese erste und eine weitere 1949 von der Haydn Society Boston-Wien begonnene Gesamtausgabe nach wenigen Jahren scheiterten, widmet sich das Joseph Haydn-Institut in Köln nun seit über 60 Jahren sehr erfolgreich der Herausgabe von Joseph Haydns Werken – und damit eben nicht nur dem Aufspüren aller Quellen zu Haydns Werken und ihrer Auswertung für die Edition, sondern auch der kritischen Prüfung der unter seinem Namen überlieferten Werke.

Cellokonzert D-dur, Autograph, Österreichische Nationalbibliothek. Zum Vergrößern anklicken.

Und das gilt auch für die Cellokonzerte, bei denen der Zweifel zwischenzeitlich sogar vor nachweislich echten Werken wie dem berühmten D-dur-Cellokonzert Hob VIIb:2 nicht halt gemacht hatte: War dieses im Solopart perfekt auf die zeitgenössische Cellotechnik abgestimmte Werk nicht schlicht „zu gut“ für den Nicht-Cellisten Haydn?

Erstausgabe André 1804. Zum Vergrößern anklicken.

So kam schon 1837 Anton Kraft ins Spiel, einer der beiden Cellisten in Haydns Orchester in Esterhazy – und Kompositionsschüler Haydns! Inzwischen wissen wir, dass Haydn seine Konzerte im täglichen Austausch mit den Orchestermusikern sehr genau auf deren Fähigkeiten abstimmen konnte, sei es ein Luigi Tomasini an der Geige oder Anton Kraft am Cello. Und die Quellenlage lässt hier keine Zweifel zu: Das Konzert liegt nicht nur im Autograph, sondern auch in einer explizit darauf zurückgehenden Erstausgabe aus dem Jahr 1804 vor und ist im sogenannten Haydn-Verzeichnis geführt, das Haydn 1805 von seinem Kopisten Joseph Elßler anlegen ließ.

 

Das im Haydn-Verzeichnis an erster Stelle angeführte C-dur-Konzert Hob. VIIb:1 ist ebenfalls sicher echt, aber es war für 200 Jahre nur in diesen zwei Takten bekannt, da keine Partitur oder Stimmen dazu überliefert waren. Erst 1961 fand sich in Südböhmen eine Stimmenabschrift, die zu diesem Werkeintrag passte. Ein sensationeller Fund, der seitdem das Cello-Repertoire bereichert, natürlich auch in unserem Katalog.

Aus dem Haydn-Verzeichnis

Zu dem an dritter Stelle angeführten C-dur-Konzert ist ebenfalls keine Partitur bekannt, aber hier haben wir leider guten Grund, auch nicht mehr darauf zu warten, denn wahrscheinlich handelt es sich bei diesem Eintrag um einen Fehler – wie Sonja Gerlach in ihrem Kritischen Bericht zu den Cellokonzerten in der Gesamtausgabe darlegt: Die Incipits der beiden C-dur-Konzerte Nr. 1 und Nr. 3 ähneln sich in ihrer aufsteigenden Anfangsfigur bis zum synkopisch hervorgehobenen Zielton f1 sehr auffällig – und nach 60 Jahren Quellenforschung im Kölner Haydn-Institut muss man konstatieren, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Haydn zwei Konzerte für dasselbe Instrument in derselben Tonart mit einem so ähnlichen Thema im Kopfsatz geschrieben haben soll.

Aus Haydns früherem Werkverzeichnis.

Weitere Nahrung finden diese Zweifel an der merkwürdigen Form des Eintrags in einem von Haydn selbst geführten früheren Werkverzeichnis. Dort steht der Eintrag zunächst an der falschen Stelle (bei den Barytontrios), wird dann zwar in die Rubrik Konzerte übertragen, aber dort wieder ausgestrichen. Könnte es also sein, dass Haydn das C-dur-Konzert Nr. 1 hier versehentlich ein zweites Mal, aus dem Gedächtnis und daher ungenau, notiert hat – und dieser Eintrag nur versehentlich von seinem Mitarbeiter Joseph Elßler in das spätere Haydn-Verzeichnis übertragen wurde?

Cellokonzert Hob. VIIb:4, Grützmacher-Ausgabe. Zum Vergrößern anklicken.

Das heute als Nr. 4 gezählte Cellokonzert Haydns steht zwar in keinem der beiden Werkverzeichnisse Haydns, ist aber in vier Abschriften überliefert und gewann durch die Veröffentlichung in Friedrich Grützmachers „Hoher Schule des Violoncellospiels“ 1894 eine bis heute andauernde Popularität. Doch auch hier sind Zweifel angebracht: Nur drei der vier Abschriften tragen den Namen Haydn, eine ist einem „Signor Costanzi“ zugeschrieben. Das Verhältnis 3:1 scheint zunächst klar auf Haydn zu verweisen, aber der genaue Vergleich der drei Haydn-Quellen bringt so viele gemeinsame Fehler zutage, dass eine gemeinsame Vorlage zu vermuten ist – womit es nur noch 1:1 steht. Und dann ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass das Werk eines „Signor Costanza“ fälschlich dem berühmten Komponisten Joseph Haydn zugeschrieben wurde, als umgekehrt. Auch musikalisch weist das Konzerte manche Eigenheit auf, die nicht für Haydn spricht: Seien es satztechnische Schwächen wie die Verunklarung der Melodie durch häufige Stimmkreuzungen oder die ungewöhnliche Tonart des langsamen Satzes, der in der Mollparallele zu D-dur, also h-moll, steht – während sämtliche Mittelsätze der 19 nachweislich echten Haydn-Konzerte in der Dominante oder Subdominante stehen.

Und so findet sich das Konzert Nr. 4 ebenso wenig in unserem Katalog wie das einigermaßen kuriose Konzert Nr. 5, das David Popper 1899 „ nach einer Skizze von Haydn ausgeführt“ und bei Ries & Erler in Berlin veröffentlicht hat. Trotz intensiver Recherche hat die Haydn-Forschung in den letzten einhundert Jahren keine entsprechende Skizze entdecken können – was zumindest leichte Zweifel aufkommen lässt, ob diese jemals existierte. Im Endeffekt ist dies aber auch fast egal, denn die ausgeführte Partitur ist in ihrem romantischen Orchesterklang reinster Popper – unter Haydns Namen dürften Sie bei Henle nur die Skizze erwarten, sofern sie sich doch eines Tages noch findet …

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2 Antworten auf »Haydns sämtliche Cellokonzerte bei Henle: 3, 8, 5 oder 2?«

  1. Ulrich Zinkeisen sagt:

    Schön, dass an dieser Stelle einmal die Incipits der Solokonzerte von 1761/65 aus dem ‘Entwurfkatalog’ (EK) Haydns aufgeführt werden, zumal hier auch die vier verschollenen Konzerte für Violine, Kontrabass, Horn und Flöte ein Gesicht bekommen. So weit sich das hier beurteilen lässt, bilden die ersten vier Incipits die älteste Schicht der Einträge, während die letzten beiden, da vom Schriftbild her blasser wirkend, als nächster Arbeitsschritt ( etwas später entstandener Werke ?) folgten. ‘Concerto per il violino in A’ (= sicherlich das “Melker Konzert” Hob VIIa:3 , allerdings lediglich als Vermerk, ohne Incipit ) sowie ‘Due concerti’ sind spätere Nachträge von Haydns Hand. Auch die Überschrift ‘contra violone’ dürfte ergänzt worden sein ( nur warum? “per il violone” ist ja eigentlich eindeutig ). Selbst das “fatto per il Luigi” könnte nachgetragen sein. In diesem Abschnitt des Entwurfkatalogs herrscht also eine gewisse Unordnung. Schleierhaft ist mir freilich, wie der deutlich unkenntlich gemachte zusätzliche Nachtrag eines weiteren Cellokonzerts, dessen Ritornell dem von “Nr.3.” des Haydn-Verzeichnisses von 1805 entspricht, dorthin gelangen konnte. Wäre die Auslöschung im EK zeitnah erfolgt und von Haydn selbst vorgenommen – und nur das macht ja eigentlich Sinn – , wäre die Rubrizierung im HV obsolet gewesen ( und für J.Elßlers Arbeitsstil nach meiner Kenntnis im Grunde untypisch ). Haydn selbst war wegen seiner gesundheitlichen Verfassung sicher kein verlässlicher Chronist mehr. Wurde also tatsächlich noch nach 1800, zu einer Zeit, da der Entwurfkatalog gar keine Rolle mehr spielte, noch in ihm nachgetragen bzw. korrigiert? Interessant übrigens, dass Haydns originales Flötenkonzert (2/4-Takt) so gar nichts mit dem ihm lange zugeschriebenen Hofmann- Konzert ( welches mit seinem punktierten C-Takt eher an das C-Dur Cellokonzert erinnert ) gemein zu haben scheint und eher wie ein Divertimento daher kommt.

    • Die stellenhafte Unordnung im Entwurfskatalog (EK) bietet uns in der Tat heute manches Rätsel. Wie der Eintrag zum Konzert Nr. 3 trotz seiner Tilgung auf S. 19 des Katalogs in das spätere Haydn-Verzeichnis (HV) gelangte, erklärt Sonja Gerlach in ihrem Vorwort zu Gesamtausgabe allerdings sehr überzeugend. Wie beschrieben steht das Konzert-Incipit ja im EK an zwei verschiedenen Stellen: Einmal „falsch“ eingetragen bei den Barytontrios auf S. 12, einmal als Nachtrag bei den Konzerten auf S. 19. Gestrichen wurde der Eintrag aber nur auf S. 19, weswegen das Konzert dann wohl versehentlich doch nach dem Eintrag auf S. 12 in das HV kopiert wurde.

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