Robert Schumann, Bunte Blätter op. 99, Erstausgabe, Robert-Schumann-Haus Zwickau, Archiv-Nr.: 1996.23-D1; der Download des Bildes ist verboten. Zum Vergrößern anklicken.

Ein kleines Geburtstagsgeschenk
für András Schiff (Dezember 2016)

Bunte Blätter überall in den Bäumen und auf den Wegen. Jedenfalls sieht man sie hier, in der Forstenrieder Allee in München, wo der G. Henle Verlag seinen Sitz hat. Bunte Blätter überall – das gibt mir gleich das ideale Stichwort für Schumanns eher seltener gespielte Bunte Blätter op. 99.
E i n  Blatt aus Op. 99 hat es mir dabei besonders angetan, nämlich das vierte in fis-moll („Ziemlich langsam“). Dieses will ich heute besonders intensiv für Sie betrachten. Seine Schlichtheit, gepaart mit seinem melancholischen Reiz macht, finde ich, dieses Blatt besonders attraktiv. Ich bin da in guter Gesellschaft, denn auch Clara Schumann und Johannes Brahms empfanden das so; beide schrieben bekanntlich ausgedehnte Variationen ausgerechnet über dieses eine Blatt:

Clara Wieck-Schumann, [Sieben] Variationen über ein Thema von Robert Schumann ihm gewidmet op. 20 [1853]: Urtextausgabe im G. Henle Verlag HN 393, S. 62–73.

Johannes Brahms, [Sechzehn] Variationen über ein Thema von Robert Schumann. Clara Schumann gewidmet, op. 9 [1854]: Urtextausgabe im G. Henle Verlag HN 438 (Einzelausgabe) oder HN 440 (sämtliche Variationen), S. 1–22.

Beide Variationen-Zyklen erschienen übrigens zeitgleich im November 1854. Robert Schumann befand sich da schon seit gut acht Monaten in der Privatanstalt des Dr. Richarz in Endenich.

Das fis-moll-Stück (überschrieben mit „Albumblatt“, weil es das erste der fünf „Albumblätter“ aus Opus 99 darstellt) ist nur eine Notenseite kurz und auch gar nicht so schwer zu spielen (auf der Henle-Skala der Schwierigkeitsgrade von 1–9 bekommt es eine „4“ und ist somit das leichteste Stück aus Opus 99. Es folgt eine  Einspielung von Dénes Várjon:

Beim ersten Blick auf diese Noten könnte man glauben, es handle sich um einen Choral. Die Melodie in der Sopranstimme sieht aus wie ein Kirchenlied. Sie ist getragen, ja fast monoton, und wird im Stile eines vierstimmigen Chorals ausgesetzt. Ich bin überzeugt, dass man im Kirchengesangbuch ähnliche Melodien finden wird. Aber es ist kein Kirchenlied, sondern eine Neuschöpfung Schumanns „im alten Stil“.

Choralhaft wirkt auch das Gleichmaß der Aneinanderreihung von jeweils vier Takten in einer schlichten A – B – A-Form: | 4+4 | : 4+4 + 4+4 : |

Robert Schumann: Bunte Blätter op. 99,4. Zum Vergrößern anklicken.

Das Choralidiom zusammen mit dem sehr einfachen formalen Bau wirkt „altertümlich“ auf uns, wie ein Zitat aus einer früheren, längst vergangenen Zeit. Und damit nicht genug. Schumann bedient sich im ersten „Albumblatt“ zusätzlich noch des Gestus der (barocken) Gavotte. Dieser üblicherweise rasche, hier wie in Zeitlupe eingefrorene Tanz ist vor allem durch sein metrisches kurz – kurz – lang gekennzeichnet. Ist nicht auch „Der Dichter spricht“ (die letzte Nummer der Kinderszenen op. 15) in dieser Hinsicht eine Schwester unseres Albumblattes?

Vielleicht war das Gavotte-„Idiom“ übrigens auch die hauptsächliche Motivation für Clara Schumann und vor allem für Johannes Brahms, ausgerechnet über dieses Albumblatt Variationen zu verfassen; denn einerseits war die Gavotte schon zu Bachs Zeiten eine beliebte Vorlage für Variationen und andererseits liebte vor allem Brahms bekanntlich die Variation über alte Formen.

Ich sagte oben, das Albumblatt in fis-Moll Stück übe in seiner Melancholie einen besonderen Reiz auf mich aus. Mir will scheinen, gerade Schumanns Rückbezug zu der alten Form der Gavotte und des Chorals ist ein wesentlicher Grund dafür. Das Entscheidende, das Raffinierte des Stücks, liegt aber in der Kombination des Alten mit dem ganz Neuen. Und dies Neue liegt in der Harmonik. Schumann kombiniert nämlich die immer gleiche, fast formelhaft wiederholte Melodie des A-Teils mit jeweils unterschiedlich akkordischem (harmonischem) Unterbau. Das ist verblüffend in der Wirkung, denn es beleuchtet die simple Melodie immer wieder in neuem Licht, in neuer „Farbe“: Im ersten Viertakter verharren wir in fis-moll, beim zweiten geht es von fis-moll nach A-dur, beim dritten (= Takte 17–20) geht es von dem verminderten Septakkord über ais kadenzierend nach A-dur, und zu guter Letzt folgt nochmals das fis-moll der ersten vier Takte. Mit immer derselben viertaktigen Melodie darüber. Verblüffend, oder?

Und dann sind da die Sept- oder Nonakkorde jeweils im Schwerpunkttakt 2, 6, 18 und 22. Spielen Sie doch einmal die ersten vier Takte und lassen Sie besonders diesen „Takt-Zwei“ auf sich wirken. Sie spüren dann plötzlich im schreitenden Gleichmaß der Gavotte die wohltuend scharfe Dissonanz des Akkordes. Dieses harmonische Gewürz, sozusagen, müssen Sie in vollen Zügen genießen – dann bekommt das ganze kleine Stück Größe und Tiefe. Denn just dieser Akkord ist der mehrfach wiederholte kleine Höhepunkt im Binnengeschehen des Satzes: Für diesen kurzen Augenblick bleibt die Bewegung jeweils auf dem punktiertem cis2 stehen – und im Bass hören wir ein d (große Septime) oder ein h (große None) – schärfste Dissonanzen, eigentlich. Man hält den Atem an. Der traditionelle vierstimmige Choralsatz wird genau durch diesen „falschen“ Basston harmonisch stark angereichert. Denn alle übrigen Stimmen im Akkord verhalten sich norm- und erwartungsgerecht. Dadurch entstehen an diesen Stellen die in Barock und Klassik undenkbaren, weil schlicht satztechnisch falschen vierstimmigen Akkorde. Für mich sind es genau diese vierstimmigen Akkorde (Dreiklang mit großer Sept oder großer None) das Spannende an diesem Stück. Sie werden geradezu autonom, als eigengültiger Klang gesetzt, noch dazu jeweils und immer im metrisch betonten Zentrum der Taktfolge. Und meiner Meinung nach sind es auch genau diese Sept- oder Non-Akkorde die neben dem „altertümlichen“ Rahmen der choralhaft-langsamen Gavotte das melancholische Element hineintragen; denn sie färben den „reinen“ Dreiklang sanft ein, indem sie einen an sich störenden fremden, vierten Ton sehr stimmungsvoll integrieren. Selbst wenn Sie das nicht als melancholisch empfinden sollten, dann werden Sie mir aber doch Recht geben, dass diese Färbung des Dreiklangs fis-moll durch den Bass-Zusatz von d oder h im übertragenen Sinne etwas mit „Bunten Blättern“, nämlich mit „Chromatik“, also mit Verfärbung, zu tun hat.

Würde man diesen dissonanten Akkord übrigens mit dem üblichen Handwerkszeug der „Harmonielehre“ analysieren, würden sicher Begriffe wie „Trugschluss“, „Mediante“, „Vorhaltston“ oder „VI. Stufe“ fallen. Das ist ja alles fraglos richtig, sagt aber doch noch gar nichts über die konkrete Wirkung (!) in unserem Stück aus. Oder?

Eine abschließende Beachtung verdient der verminderte Akkord in Takt 17 mit seiner „Auflösung“ in den verfärbten fis-moll-Akkord in Takt 18. Das ist ein geradezu mystischer Moment. Dieser verminderte Akkord (T. 17) ist auch der einzige im ganzen Stück, der von Schumann explizit mit einem Halte-Pedalzeichen versehen ist. Und zwar nicht allein, um die Vorschlagsnote ais der linken Hand in den Akkordklang zu integrieren (der Akkord wäre ja ohne Pedal nicht zu greifen), sondern auch, um diesen besonders sphärischen verminderten Klang mit gedrücktem Pedal klanglich abzusetzen. Denn wenn man nicht sehr genau hinhört, bemerkt man gar nicht, dass genau an dieser Stelle die Wiederholung des A-Teils beginnt. Der verminderte Akkord verfärbt und vertuscht damit erneut den an sich äußerst simplen Melodieverlauf.

Genau durch diese Färbungen wird das kleine Albumblatt aus Op. 99 so ungemein attraktiv und es passt so wunderbar in die leicht melancholische Herbststimmung, der wir uns mit Schumann hingeben wollen, wenn wir das Stück spielen oder hören.

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Eine Antwort auf »Herbstliche Gedanken zum „Bunten Blatt“ in fis-moll von Robert Schumann«

  1. Dr. Michael Struck sagt:

    … mir aus Seele und Verstand gesprochen! Danke!
    Herzliche Grüße
    Michael Struck

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