Sie kennen George Gershwins Klavierkonzert und die berühmte Stelle kurz vor Schluss, an der ein Schlaginstrument den Höhepunkt des Stücks mit einem lauten „Bang“ einleitet? Nein? Dann kommt hier zum Einstieg erst einmal ein Ausschnitt aus dem Film „An American in Paris“ von 1951, in dem Oscar Levant die Stelle zum Besten gibt – übrigens unverkennbar in amüsanter Personalunion als Dirigent, Pianist und Schlagzeuger.

In der bis heute maßgeblichen gedruckten Partitur steht:

Gershwin Klavierkonzert, Partitur

Im heute erhältlichen Klavierauszug finden wir jedoch:

Und welches Instrument sahen wir im Film? War das nicht ein Instrument, das im deutschen Sprachgebrauch als „Tamtam“ bezeichnet wird?

Beim Urtext-Lektor läuten die Alarmglocken. Was hat Gershwin denn nun wirklich für diese Stelle vorgesehen? Und handelt es sich in den genannten Fällen denn überhaupt um unterschiedliche Instrumente?

Versuchen wir uns zunächst an den Definitionen, mit einem Seitenblick auf „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ – unsere Standard-Enzyklopädie:

Gong: Ein altes asiatisches Idiophon, also ein Selbstklinger. Die Metallscheibe wird mit Hilfe von zwei Löchern am Rand und einer Schnur in einem Rahmen aufgehängt und mit einem Schlegel in Schwingung versetzt. Nach heutigem Verständnis hat ein Gong eine bestimmte Tonhöhe und das zu Spielende wird deshalb in einem normalen Notensystem mit fünf Linien notiert. Der Gong klingt so.

Tamtam: Ebenfalls ein altes asiatisches Idiophon, das wie ein Gong aufgehängt und gespielt wird. Allerdings hat das Tamtam keine bestimmte Tonhöhe und wird daher nicht in einem Notensystem mit fünf Linien, sondern nur auf einer Linie notiert. Das Tamtam klingt so.

Leider werden sowohl Gong als auch Tamtam zu Gershwins Zeit im englischsprachigen Raum häufig als „Gong“ bezeichnet, und auch heute werden die Begriffe häufig synonym benutzt, obwohl die Instrumente deutlich unterschiedlich klingen.

Cymbal Crash: Die englische Anweisung für das Zusammenschlagen eines Beckenpaares (auch „cymbal clash“). Das Becken, ebenfalls ein Idiophon aus Metall, wird in seiner Mitte durchbohrt, um es zu befestigen, da es dort nicht oder kaum schwingt. Ein Beckenpaar wird an Schlaufen gehalten. Ein Schlag klingt so.

Wenn wir uns nun also in den Notenquellen zum „Concerto in F“ auf die Suche nach Gershwins Absicht machen, müssen wir chronologisch bei dem sogenannten Sketch Score beginnen. Dabei handelt es sich um ein autographes Particell, in dem Gershwin das Soloklavier notierte und auf ein bis drei weiteren Notenzeilen die Orchesterbegleitung niederschrieb (in einer Form, die einem Klavierauszug sehr nahe kommt). Dies ist das eigentliche „Kompositionsmanuskript“ des Werks, das Gershwin sicher auch sehr gut zur unmittelbaren Verklanglichung am Klavier verwenden konnte. Im „Sketch Score“ notierte er an der Stelle, die uns hier interessiert, lediglich ein allgemeines Zeichen für ein Schlaginstrument.

In etwas abgewandelter Form übernahm Gershwin dieses unspezifische Zeichen auch in die autographe Orchesterpartitur. Es steht an ungewöhnlicher Stelle, genau auf dem Doppelstrich vor dem anschließenden Grandioso-Abschnitt, mit einer Fermate versehen und auf der Höhe der Becken-Notation. Die Orchesterpartitur wurde für Aufführungen benutzt und spiegelt deutlich die Konfusion der Dirigenten wieder. Von verschiedenen Händen wurden Hinweise ergänzt: „Tam-tam“ vom Dirigenten der Uraufführung, Walter Damrosch; „Cymbals“ von unbekannter Hand; „gong“, ebenfalls von unbekannter Hand, in Bleistift und anschließend ausradiert.

Bedauerlicherweise hat Gershwin nicht selbst die Veröffentlichung seiner Partitur begleitet, sie erschien erst postum 1942. Der Herausgeber der Partitur und Verlagslektor, Frank Campbell-Watson, entschied sich, wie wir wissen, für den „Gong“ (und ergänzte außerdem dafür einen ganzen Takt). Ob er, wie Walter Damrosch, damit eigentlich das Tamtam meinte, kann man nur vermuten.

Nur in einer Quelle finden wir dagegen eine vom Komponisten authorisierte Instrumentenzuweisung, im 1927 noch zu Gershwins Lebzeiten erschienenen Klavierauszug, der „Cymb. Crash“ vorschreibt. Diese Anweisung geht konform mit der oben beschriebenen Position des Zeichens im Becken-System in der autographen Partitur. (Gershwins Beteiligung an der Veröffentlichung des Klavierauszugs steht im übrigen außer Frage, denn es existieren Druckfahnen und Andrucke mit Korrekturen von seiner Hand.)

Aus der Urtextperspektive drängt sich also eine Entscheidung gegen die Aufführungstradition auf: Nach den überlieferten, autorisierten Quellen handelt es sich nicht um ein Tamtam, sondern um einen Beckenschlag.

Und doch kommen Zweifel auf, bezieht man den besonderen Status der autographen Partitur und die Aufführungsaspekte in die Überlegungen mit ein. Die handschriftliche Partitur zeigt sich in Fragen der Orchestrierung als ein „work in progress“. An zahlreichen Stellen experimentierte Gershwin vermutlich über Jahre mit ihr, ergänzte Instrumente, doppelte andere, strich ganze Gruppen usw. usw. Viele Bleistifteintragungen von seiner Hand lassen nur vermuten, dass mit neuen Aufführungen des Werkes auch geänderte Orchestrierungen zu hören waren. Hinzu kommen die Eintragungen von Walter Damrosch, der das Werk nicht nur bei der Uraufführung sondern auch nach Gershwins Tod mehrfach aus dieser Partitur dirigierte. Seine Eintragung „Tam-tam“ an besagter Stelle kann mit Gershwin abgesprochen gewesen sein, auch wenn im Klavierauszug von 1927 noch ein Beckenschlag stand. Für die zwei bekannten Einspielungen des Konzerts mit Oscar Levant, die vor dem Erscheinen des 1942 gedruckten Orchestermaterials entstanden, wurde die autographe Partitur benutzt (und das daraus abgeschriebene Stimmenmaterial). In beiden erklingt das Tamtam. Dies veranlasste vielleicht auch Frank Campbell-Watson, es in den Partiturdruck aufzunehmen. Ich würde seiner Entscheidung folgen.

Und Sie?

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