Bemerkungen zur Notwendigkeit von Körpersprache beim Klavierspiel

Wilhelm Busch: „Der Virtuos“, 1865 (Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD)

Wilhelm Busch: „Der Virtuos“, 1865 (Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD)

Heute mal ein ganz und gar praktisches Thema für uns Klavierspieler und Pianisten: Vielleicht hat es sich noch nicht überall herumgesprochen: Es kommt beim Klavierspiel mehr auf das Auge als auf’s Ohr an! Als Klavierspieler/in hat man nur dann reelle Chancen auf einen Wettbewerbsgewinn, wenn man sein Spiel durch starke Körperbewegungen und Mimik verstärkt. Eine aktuelle, angeblich seriöse Studie beweist es: Laien wie Fachleute kürten nämlich beim bloßen Zusehen von tonlosen (!) Wettbewerbsaufnahmen dieselben (!) Gewinner wie die Fachjury desselben Wettbewerbs. Anders gesagt: Solides Klavierspiel vorausgesetzt entscheidet das Auge, nicht das Ohr. Oder noch anders: Die Jury hätte auch mit Ohropax in den Ohren dieselben Gewinner nominiert. Das gibt nun wirklich zu denken…

 

Mich persönlich überrascht das Ergebnis der Studie, denn mich lenken solche „Mätzchen“ eher vom Wesentlichen ab. Andererseits fällt mir auch ein Hinweis von Alfred Brendel ein, welch enorme suggestive Wirkung körpersprachliche Zeichen auf Zuhörer ausüben kann. Beiden Aspekten gehe ich im Folgenden in aller Kürze nach.

Man mag Lang Langs extreme Körpersprache am Klavier als unnötiges Gehabe abtun. Auf die meisten Zuhörer wirkt er aber gerade deshalb so magisch. Er hätte jeden Klavierwettbewerb gewinnen können! Hier ein treffliches Beispiel von Lang Langs körpersprachlicher (Massen-) Suggestion in einer Live-Darbietung der 2. Ungarischen Rhapsodie von Liszt (bis zum „bitteren Ende“ durchsehen lohnt sich … vor allem unter dem Aspekt des heutigen Blogthemas):

http://www.youtube.com/watch?v=R-EGKpbIBuw

Der Pianist Marc-André Hamelin wiederum würde wohl kaum einen Wettbewerb gewinnen können. Seine geradezu stoische Ruhe Haltung steht in größtem Kontrast zu Lang Lang: Dasselbe Showpiece von Liszt wird in technisch bewundernswerter Überlegenheit exerziert, weit souveräner und musikalischer als Lang Lang, aber in stocksteifer Konzentration (auch hier lohnt das YouTube-Ansehen und –hören des ganzen Stücks):

Die ohne Zweifel allerbeste Live-Aufnahme dieses Stückes, jedenfalls hinsichtlich körpersprachlicher Aspekte, ist freilich jene von Victor Borge ☺:

Jeder Musiker, jede Musikerin, wird freilich selbst entscheiden müssen, wie stark er/sie dem Publikum „Inneres“ nach außen kehren möchte. Aber es gibt nun durchaus eine Noten-Situation, in der man sich bewegen „muss“, um die gewünschte Wirkung bei Publikum zu erzielen: den mit Crescendo und/oder Decrescendo versehenen, liegenden Klavierklang:




Abb. 1: L. v. Beethoven, Klaviersonate op. 7, 4. Satz, T. 62–64 (Anfang) (HN 773)




Was mag Beethoven mit dieser merkwürdigen Crescendo-Vorschrift gemeint haben und wie setze ich das geforderte Anschwellen aus dem p zum sf im nächsten Takt am Klavier in Klang um? Mir ist „vor“ Beethoven keine einzige solche „unspielbare“ Dynamikanweisung in der Klaviermusik bekannt. Aber bei Beethoven kommt sie gelegentlich vor (auch bei Schubert, Schumann, Liszt, Rachmaninow habe ich solche Stellen gefunden). Beethoven scheint überhaupt der erste zu sein, der sich schriftlich über die klanglichen Beschränkungen des Tasteninstruments in dieser Art hinwegsetzte. Beethovens Autograph der Klaviersonate op. 7 ist verschollen, aber in der Erstausgabe steht tatsächlich dieses nicht realisierbare p mit nachfolgendem Crescendo. Im Kontext der Stelle scheint dennoch klar zu sein, was Beethoven meinte (hörte; intendierte), aber ungewöhnlich notierte: nämlich ein „großes“ Crescendo über vier Takte zum c-moll-Fortissimo (T. 64).

Im Kopfsatz der Klaviersonate op. 31 Nr. 3 findet sich gleich zu Beginn eine ähnliche „unausführbare“ Stelle. Wieder liegt keinerlei Handschrift Beethovens vor, wir hängen editorisch von der Erstausgabe ab. Das merkwürdig erscheinende cresc. zum liegenden Akkord in Takt 4…

Abb. 2: L. v. Beethoven, Klaviersonate op. 31 Nr. 3, 1. Satz, T. 1-6 (HN 755)

…hat an keiner parallelen Stelle eine Entsprechung; es steht sonst bereits zu den vorausgehend repetierten Viertelschlägen. Ich deute die Stelle analog zur Stelle in Op. 7, 4. Satz: Beethoven will ein „großes“, langgezogenes Crescendo bis hin zum sf in Takt 6 (und so auch an den zahlreichen übrigen Stellen des Satzes). Eine letzte Beethoven-Stelle:




Abb. 3: L. v. Beethoven, Les-Adieux-Sonate op. 81a, 1. Satz, T. 252–254 (Anfang) (HN 723)




Man muss dazu wissen, dass das cresc.— nur in Beethovens Autograph der Les-Adieux-Sonate op. 81a steht, nicht aber in der von ihm korrigierten Erstausgabe. Alfredo Casella rät im Kommentar zu seiner Ricordi-Ausgabe (1919/20) schlichtweg dazu, das cresc. zu ignorieren und das nachfolgend oktavierte b im Pianissimo zu spielen – weil man das Crescendo ja angeblich nicht ausführen könne.

Alfred Brendel bietet nun zu dieser Art Problem eine sehr bedenkenswerte, prinzipielle Lösung an, wie man solche „unspielbaren“ Stellen adäquat spielen könnte: Mit Hilfe von körpersprachlicher Gestik. Er schreibt:

„Der Klang längerer Noten auf dem Klavier ist modifizierbar 1. mit Hilfe der Begleitstimmen, falls solche vorhanden sind, 2. mit Hilfe synkopierten Pedals und 3. mit Hilfe von Bewegungsvorgängen, die die kantable Vorstellung des Pianisten sichtbar machen. Diese Bewegungsvorgänge werden auf den Ansatz der Note selbst, aber auch auf ihre Vorbereitung und Fortsetzung wesentlich einwirken. Manche Crescendi auf einer Note sind nur durch Suggestion im Konzertsaal zu übermitteln.“ (Alfred Brendel, Nachdenken über Musik, München 1982, S. 35.)

Nicht nur für den potentiellen Wettbewerbsgewinn ist demnach Körpersprache beim Klavierspiel sehr wichtig; nein, auch zur Realisierung von Notentext. Nur derjenige Klavierspieler offenbar, der sich von der Komponisten-Intention des real Unhörbaren – emotional – bewegen lässt, der wird sich auch entsprechend – körperlich – bewegen; und nur, wer derart bewegt ist, bewegt auch die anderen, die Zuhörer, die vor allem auch Zuschauer sind. Diese meinen dann sogar einen liegenden an- und abschwellenden Klavierklang zu erleben, auch wenn er realiter gar nicht zu hören ist.

Probieren Sie es doch mal aus.

Wilhelm Busch: „Der Virtuos“, 1865 (Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD)

Wilhelm Busch: „Der Virtuos“, 1865 (Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD)

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2 Antworten auf »Zuhörer sind auch nur Menschen«

  1. Wolfgang Merkes sagt:

    Den Artikel würde ich voll und ganz unterschreiben. Der Text bezieht sich nur auf Klavier, ich würde gern noch ergänzen, dass Körpersprache auch in anderen musikalischen Bereichen von eminenter Bedeutung ist. Bei einem Chor beispielsweise, der unbeweglich und ohne eine Miene zu verziehen, sein Stück vorträgt, wird, selbst wenn es musikalisch noch so perfekt ist, kaum ein Funke überspringen. Und dieser Funke ist lebenswichtig. Genauso im Orchester. Wie oft sieht man Weltklassespitzenorchester in perfekter Präzision spielen – aber sie verziehen keine Miene, bewegen sich nur soviel, wie zur Tonerzeugung notwendig ist. Man zweifelt manchmal, ob sie mit den Gedanken wirklich bei der Musik sind. Was gäbe das für eine Wirkung, wenn ein solches Orchester sich mal voll und ganz – eben auch körperlich – emotional hineinknien würde…
    Positives Gegenbeispiel: es gibt eine DVD mit den Brandenburgischen Konzerten von Johann Sebastian Bach, gespielt vom Orchestra Mozart unter Claudio Abbado. Auch diese perfekt in der Ausführung. Aber was hinzukommt: die Musiker spielen im Stehen, mit vollem Körpereinsatz, und sie kommunizieren miteinander, man merkt, dass es ihnen Freude macht, und das springt über…

  2. W. Schmidtmayr sagt:

    Was die Bezeichnung “crescendo” angeht (ob jetzt einen Ton oder eine ganze Passage bezeichnend), erinnere ich mich immer an einen wunderbaren Satz von György Kurtág, der bei einem Meisterkurs einmal sagte: “Crescendo heisst nicht ‘lauter werden’, sondern es heisst ‘Achtung! Es kommt was!'”

    Was solche am Klavier scheinbar unausführbaren crescendi betrifft (berühmtes Beispiel ist ja auch der Schluss der Liszt-Sonate), darf man nicht vergessen, dass die Komponisten (wahrscheinlich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts) stets davon ausgingen, dass man die Ausführenden auf dem Podium ja immer auch sieht und nicht nur hört! (Natürlich mit der berühmten Ausnahme des abgedeckten Orchesters in Bayreuth… und all der uneitlen Organisten, die auf den Orgelemporen dieser Welt für ihr Publikum praktisch unsichtbar ihre Konzerte spielen). Vielleicht haben die Komponisten die entsprechenden Körperbewegungen also in Gedanken quasi schon mit hinein komponiert.

    Und zur Bewegung beim Klavierspielen: als Glenn Gould seine legendäre 1982er Version der “Goldberg-Variationen” Bachs aufnahm – und zwar gleichzeitig für Film (!) und CD/Platte – , erzählte sein Toningenieur später, dass Gould in der post production einzelne Passagen für die CD noch einmal einspielte, weil er meinte, dass er bestimmte Dinge einfach deutlicher spielen müsste, um den fehlenden visuellen Eindruck auszugleichen.

    Mit etwas Geschick kann man am Klavier zb. den Anfang von Liszts Etüden “La Campanella” oder “Un Sospiro” so umschreiben, dass sie zwar genauso klingen, wie mit der originalen Handaufteilung, aber dann natürlich für ein Publikum weitaus weniger spektakulär (im wahrsten Sinne des Wortes) anzusehen wären!

    Billige Effekte, die von der eigentlichen Musik, also dem reinen Klang als der “reinen Lehre”, bloß ablenken? Wer weiss… vielleicht spielten und spielen deshalb Richter und Sokolow in fast komplett abgedunkelten Konzertsälen…

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