J.S. Bach, Verzierungstabelle (s.u.)

Das Thema „Verzierungen“ in der Musik ist wahrlich uferlos. Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das sich an der Grenze zwischen Notation und Aufführung abspielt. Verzierungen sind im wahrsten Sinn des Wortes eine „Zierde“, die der Ausführende dem aufgeschriebenen oder gedruckten Notentext beigibt. Verzierungen oder Ornamente wurden in der älteren Musik daher meist erst gar nicht notiert. Die Aufführungstradition lehrte den Interpreten, an welchen Stellen er welche Auszierungen anbringen konnte. Eindrucksvoll zeigt etwa die Flötistin Rachel Brown in unserer Ausgabe der 12 Fantasien von Georg Philipp Telemann (HN 556), was man mit dem Notentext machen kann, ja muss, um ihn stilgerecht aufzuführen. Verzierung hat also im Kern immer mit Improvisation zu tun.

Doch bereits in der alten Musik begann man damit, Ornamentik nicht allein dem Interpreten zu überlassen. Schon früh entwickelte sich ein Repertoire von Symbolen, die dem eigentlichen Notentext hinzugegeben wurden. Entscheidend war dann natürlich zu wissen, welches Symbol für welche Verzierung stand. Johann Sebastian Bach zum Beispiel trug aus diesem Grund in das „Clavierbüchlein“ für seinen Sohn Wilhelm Friedemann eine Tabelle ein, die genau angibt, was der Spieler bei welchem Zeichen zu tun hat.

Johann Sebastian Bach, Verzierungstabelle aus dem "Clavierbüchlein"

Verzierungssymbole und Erklärungen dieser Symbole gibt es aus den letzten vier Jahrhunderten zu Hauf. Fast wirkt es so, als habe man immer stärker versucht, die Ornamentik dem Bereich der Improvisation zu entziehen und sie genau auszubuchstabieren. Es half nichts. Welcher Musiker kennt nicht Diskussionen um die Fragen „Vorschlag auf oder vor die Zählzeit“, „Triller von Hauptnote oder von Nebennote“, usw.

Immer detaillierter wurde in der Musikgeschichte die Notation von Vorzeichen zu Ornamenten. Denn, je nach Kontext, kann etwa für Trillernebennoten oder Nachschlagsnoten nicht auf den Tonvorrat der jeweiligen Grundtonart zurückgegriffen werden. Um sicherzustellen, dass für die nicht ausnotierten Töne des Ornaments auch die korrekten Vorzeichen zur Anwendung kommen, werden zum Verzierungszeichen die jeweiligen Akzidenzien gesetzt. In Chopins Berceuse taucht in T. 43 in der rechten Hand ein Triller über heses1 auf, dem Chopin in allen maßgeblichen Quellen ein ♭ beigibt.

Chopin, Berceuse, T. 43

Klarer Fall, denkt man, und trillert mit Hauptnote heses1 und der Nebennote ces2. Wäre da nicht das Schülerexemplar von Camille O’Meara-Dubois. Folgende Eintragung ist dort auf S. 4, Ende des fünften Taktes, zu finden. Erst bei im Zuge der Vorbereitung einer revidierten Ausgabe (HN 1258) fiel mir auf, dass hier womöglich ein Problem verborgen liegt. Warum hielt Chopin es für nötig, an dieser Stelle eine Eintragung in das Unterrichtsexemplar seiner Schülerin zu machen? Und viel wichtiger, was bedeutet sie?

Ich lese: 

Chopin geht es offenbar um die Nebennote. Der zusätzliche Notenkopf auf der mittleren Notenlinie ist deutlich zu erkennen; vom Notenkopf zieht sich eine Linie zum Vorzeichen ♭ über dem Triller, das noch einmal mit Bleistift durch ein ♭ überschrieben ist. Will Chopin hier nicht unmissverständlich klar machen, dass die Nebennote b1 lauten soll? Das gedruckte ♭ über dem Triller wäre somit als Aufhebung des Doppel ♭ vor der Hauptnote zu verstehen. Es bezieht sich also auf die Tonhöhe h1 und nicht etwa c2 – und das scheint Chopin mit dieser Eintragung verdeutlichen zu wollen. Der Triller würde demnach  lauten, bzw, „korrekt“ notiert   . Wäre Chopin also exakt gewesen, hätte er  notieren müssen. Denkbar sind jedenfalls beide Varianten – Nebennote ces2 und Nebennote ceses2. Unsere revidierte Ausgabe wird daher über eine Fußnote zum Notentext über dieses Problem informieren.

Die um Genauigkeit bemühte Ornamentnotation Chopins scheitert hier an seiner von Chromatik durchzogenen Harmonik. Einen ähnlichen Fall findet man in Chopins Klavierkonzert Nr. 2 f-moll, 3. Satz, T. 260.

F. Chopin, Klavierkonzert Nr. 2, Finale, T. 257-260

An dieser Stelle schweigen sich die Quellen zur Nebennote des Trillers über eses3 aus. Wollte man beckmesserisch sein, müsste man f3 lesen – eine absurde Vorstellung, denn eine kleine Terz (sozusagen d3/f3) kommt als Triller-Intervall nicht in Frage. Ziemlich wahrscheinlich ist hingegen, dass die Nebennote von T. 257 an gleichbleibend es3 lauten soll. Es wäre in T. 260 über der Trillerschlange ein Doppel ♭ zu ergänzen, damit die Nebennote hier feses3 (= klingend es3) lautet. Im nächsten Nachdruck unserer HN 420 werden wir diese kleine Ergänzung vornehmen.

Ornamentik wird in unseren stark regulierten Notentexten immer eine letzte Bastion der Improvisation bleiben. Selbst wenn Komponisten sich um eine genaue Ausformulierung von Verzierungen bemühten – oft bleibt ein kleiner Rest an Unschärfe, der dem Interpreten über das Notat hinaus einen kleinen Spielraum an Freiheit einräumt.

 

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4 Antworten auf »Von der Schwierigkeit Verzierungen zu notieren – Rätsel um eine Trillernebennote in Chopins Berceuse«

  1. M. Schneidt sagt:

    mit Interesse und Genuss habe ich Ihr(en) Blog gelesen.
    Ich denke, Sie haben recht: gerade bei Chopin wird es manchmal problematisch, genaue Regeln bei den Verzierungen anzuwenden. (Eine lustige Idee, bei der Stelle aus dem f-Moll Konzert quasi mit einer kleinen Terz zu trillern!) Wie gut, dass man in der Musik manchmal etwas ausprobieren kann um schließlich einem klanglich sinnvollen Ergebnis den Vorzug zu geben.
    Bei Ihrem Beispiel aus Chopin’s Berceuse musste ich gleich an die Stelle Takt 88/89 im “Gnomus” aus Mussorgski’s Bilder einer Ausstellung denken, wo der Trillerton enharmonisch verändert wird (zuerst Hauptnote a, Nebennote also b, im nächsten Takt Hauptnote heses) Hier könnte man überlegen, ob das für die Nebennote Konsequenzen haben sollte – vielleicht aber auch nicht…
    Wie auch immer, ich freue mich auf den nächsten Beitrag im Blog.

  2. Wieland Hartwich sagt:

    Wohl jeder Spieler von Chopins Berceuse hat sich an den Takten 43 und 44 abgemüht. Nicht nur wegen der Frage, wie die vielen ‘kleinen Nötgen’ um mit P. E. Bach zu sprechen, gerecht auf die sechs Achtel der linken Hand zu verteilen seien, sondern auch wegen des im Blog angesprochenen Themas der Verzierungen. Jean-Jacques Eigeldinger schreibt in seinem berühmten Buch Chopin vu par ses élèves (Neuchâtel, 1988 S. 288) der Henle-Verlag würde die Unterrichts-Exemplare von Chopins bester Schülerin Camille Dubois-O’Meara zwar als Quelle erwähnen, sie aber kaum bei der Redaktion der Notentexte benutzen. Nun, das bezieht sich auf die älteren Henle-Ausgaben und stimmt, wie der Blog beweist, so nicht mehr. Dr. Müllemann hat sich die Eintragungen Chopins zum Takt 43 der Berceuse genau angeschaut und kommt zu einer eindeutigen Interpretation. Wer sich das digitalisierte Dokument unter gallica.bnf.fr (Eingabe: Chopin Berceuse) anschaut, muss zu demselben Ergebnis wie er kommen. Die obere Nebennote heißt nach dieser Quelle eindeutig b1 und nicht ces2.
    Die obere Nebennote ces2 findet sich aber schon in den Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Als Beispiel sei die Stelle in der Ausgabe von Karl Klindworth aus dem Jahre 1883 genannt, bei deren Anblick uns Henle-Urtext -Verwöhnten wegen der vielen eigenmächtigen Veränderungen des Originaltextes nicht ganz wohl ist.

    Diese Ausgabe hatte, auch weil sie von einem Liszt-Schüler stammte, einen großen Einfluss und so spielten und spielen bis heute so gut wie alle Pianisten den Triller in Takt 43 mit der Nebennote ces2. Jan Ekier, der Herausgeber der Polnischen Nationalausgabe (Wydanie Narodowe) der Werke Chopins hatte die Originale der 3 Unterrichts-Bände von Camille O’ Meara-Dubois, als sie 1960 in Warschau fotokopiert wurden, gesehen. Im Quellenkommentar zur Berceuse nimmt Ekier Bezug auf den Takt 43. Sein Kommentar ist aber enttäuschend. Er stellt fest, dass die Eintragungen Chopins nicht ganz leserliche Zeichen enthalte, die vermutlich die Art der Ausführung des Trillers bezeichnen und verweist dann auf seinen Ausführungskommentar, der den Triller wie gehabt mit der Nebennote ces2 angibt und ihn mit der Nebennote beginnt. Der Trillerbeginn ist nicht Gegenstand des Blogs und soll hier nicht weiter vertieft werden. Aus dem Fingersatz, den Chopin in Takt 44 angibt, geht aber eindeutig hervor, dass zumindest hier derTriller mit der Hauptnote beginnen soll.
    Die Blogleser sind dankbar durch die Blogs Einblicke in die Entstehungsprozesse der Henle Urtextausgaben zu erhalten. Ich persönlich freue mich, dass die Überarbeitungen der Chopinausgaben in den Händen eines chopinista, wie die Polen sagen, liegen und bin auf neue Entdeckungen gespannt.

  3. Anton WERNER sagt:

    Den Anfang Ihres Fließtexts “Das Thema Verzierungen” habe ich mit Freude in das Kapitel “Verzierungen” meines Buches “Werktreue am Klavier” übernommen, weil dieses Kapitel wirklich sehr lang geraten ist.
    Den heses-Triller habe ich außerdem zitiert.
    Herzlich, Anton WERNER

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