Feuilleton
Schumann Forum 2010
Die "Träumerei"
von Wolf-Dieter Seiffert
Geschäftsführer G. Henle Verlag
01. Juli
Robert Schumanns bekannteste Komposition. Allein schon der Titel scheint Programm und Definition von „Romantik“. Inbegriff der deutschen musikalischen Hochromantik. So viele hunderttausende Pianisten haben Schumanns „Träumerei“ schon so oft, so schön und vor allem sooooooo langsam gespielt. Eine große Tradition, an die man zwangsläufig oder unbewusst anknüpft, setzt man sich ans Klavier und spielt sie, die „Träumerei“.
Und doch ist das Schneckentempo, in dem wir Schumanns „Träumerei“ kennen, ein großer Irrtum. Ein Erbfehler, (der übrigens mit Clara Schumann beginnt). Es gibt bedenkenswerte, also gute Argumente gegen dieses Tempo. Sie sollen im Folgenden kurz ausgebreitet werden.
In der vorausgehenden Ausgabe des Schumann-Forums (15. Juni, siehe unten) präsentierte ich Ihnen einen Überblick über Schumanns sämtliche authentischen Metronomangaben; dazu eine maßgebliche Stimme aus der Fachwelt, die zum Schluss kommt, dass alle diese Metronomangaben der Richtung nach ernst zu nehmen, also nicht falsch oder ein Irrtum sind. Heute präsentiere ich Ihnen gewissermaßen als Nagelprobe das berühmteste Klavierstück Schumanns mit Viertelnote = 100. So hat das Schumann selbst gewollt. Das ist für den heutigen Spieler, aufgrund der Tradition, geradezu utopisch schnell. Zu schnell. Wirklich: „zu schnell“?
Ich habe den wunderbaren Pianisten und Hochschullehrer Michael Schäfer gebeten, exklusiv für unser Schumann-Forum die „Träumerei“ in diesem originalen Tempo zu spielen. Bevor Sie nun den Kopf schütteln – hören Sie es sich doch einmal an:
Das Tempo ist ungewohnt und verstörend. Weil wir das Stück anders kennen und lieben. Würden Sie jedoch die „Träumerei“ zum ersten Mal hören, dann wären Sie nicht verstört. Sie hören ein wunderschönes Klavierstück in fließender Bewegung mit stets wiederkehrendem Kernmotiv in abwechslungsreichem harmonischem Kleid; zarte Verzögerungen und Beschleunigungen machen es sprechend. So ähnlich hat es inzwischen auch Andreas Staier eingespielt und ich höre aus verschiedenen Ecken dieser Welt, dass immer mehr bedeutende Pianisten die Metronomangaben Schumanns, auch der besonders umstrittenen „Kinderszenen“ ernst(er) nehmen. Deren Konzerte und Aufnahmen werden, da bin ich mir sicher, eine neue Tradition einläuten.
Ich habe mit Professor Schäfer ein Gespräch geführt und ihn gefragt, wie er sich bei Tempo 100 gefühlt hat. Und was er davon hält. Die mich überraschende Antwort ist, dass er dankbar für dieses „Experiment“ ist. Er ist überzeugt davon, dass nur dieses oder annähernd dieses originale Tempo dem „kleinen Ding“ (wie es Schumann selbst nannte) gerecht wird. Die Tradition ist falsch. Hier können Sie das Interview mit Michael Schäfers scharfsinnigen und mich rundum überzeugenden Argumenten (auf Deutsch) hören:
Illustration “Träumerei”,
© 2005 by Tatsuki Sakamoto
Ich habe diese wichtigen Argumente, die in der Tat alle für Schumanns Viertelnote = 100 in der „Träumerei“ sprechen, außerdem in Stichworte zusammengefasst (deutsch/englisch):
Alle Klavierspieler unter meinen Lesern dieses Forums kann ich nur ermutigen und ermuntern, es einfach einmal auszuprobieren: Spielen Sie doch häufiger die „Träumerei“ nicht wie im üblichen Tiefschlaf, sondern im Tempo, wie es sich der Urheber vorgestellt hatte. Neben den objektiven, künstlerischen und nicht zuletzt akustischen Gründen, die uns hier Michael Schäfer vorstellt, kann ich Ihnen noch etwas auf den Weg mitgeben, worüber Sie einmal nachdenken sollten: nämlich über den Titel. Ich bin überzeugt, hätte Schumann wirklich ein langsames bis sehr langsames Tempo bei diesem Stück gewünscht, so hätte er es „Traum“ und nicht subtil „Träumerei“ genannt. Worin sich ein „Traum“ von einer „Träumerei“ unterscheidet? Lesen Sie hierzu meinen kurzen Essay „Vom Tiefschlaf auf 100. Zu Robert Schumanns Träumerei“
Als ein kleines Extra lade ich Sie noch ein, zu lesen, was die Pianistin Elisabeth Leonskaja zu Schumanns Werk in Vergleich zu Frédéric Chopins zu sagen hat: 9 Fragen
Verabschieden möchte ich mich heute mit einer Live-Aufnahme der „Träumerei“, die Legende ist. Nach unseren neuen Erkenntnissen spielt Vladimir Horowitz freilich zu langsam. Und doch tief bewegend. Musik lässt sich eben letztendlich doch nicht nach bloßen Geschwindigkeitsfragen bemessen:
[Video leider nicht mehr verfügbar]
Nach so viel „Träumerei“ wird es in 14 Tagen wieder recht handfest. Bis dann seien Sie herzlich gegrüßt.
Ihr Wolf-Dieter Seiffert