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Feuilleton

Schumann Forum 2010

"Toccata op. 7"

von Wolf-Dieter Seiffert
Geschäftsführer G. Henle Verlag

15. Mai

Heute nun also die bereits angekündigte (kleine) Sensation: Schumanns berühmte Toccata in C-dur op. 7 (1834) in der nahezu unbekannten Frühfassung von 1830. Dank der Großzügigkeit der Pierpont Morgan Library in New York konnten wir das reinschriftliche Autograph Schumanns einsehen, nach strengen Urtext-Richtlinien edieren und vor wenigen Wochen im Druck veröffentlichen.

Schumanns handschriftliche Frühfassung stellt keineswegs bloß eine leicht abweichende Vorform der eigentlichen, viel geliebten Druckversion der Toccata op. 7 dar. "Die Übereinstimmungen zwischen beiden Fassungen sind so gering, dass die Druckversion im Grunde eine Neukomposition darstellt" – so unser Herausgeber Dr. Ernst Herttrich im Vorwort seiner Henle-Urtextausgabe. Das gesamte Vorwort und /oder den Kritischen Bericht findet der interessierte Leser HIER.

Im Folgenden stelle ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in aller Kürze diese Schumann-Ausgabe des G. Henle Verlags vor (als kleines Extra finden Sie dann im Anschluss daran eine Link-Liste von sämtlichen mir derzeit zugänglichen Audio- oder Video-Aufnahmen der bekannten Fassung von Schumanns C-dur-Toccata op. 7).

Natürlich hoffe ich sehr, dass sich vor allem die Klavierspieler unter Ihnen diese besondere Neuausgabe des G. Henle Verlags besorgen werden, um sich ein eigenes Bild machen zu können:

Das Manuskript dieser hier abgedruckten Frühfassung der Toccata von 1830 – Schumann betitelt sie bezeichnenderweise als "Exercice" – besaß ehemals der große Pianist Alfred Cortot. Cortot hinterließ uns nicht allein unsterbliche Tonaufnahmen vieler Schumann-Werke (leider nicht von der Toccata), sondern er edierte seinerzeit auch alle Schumann-Klavierwerke im Verlag Salabert im Rahmen seiner Reihe "Les Éditions de travail". Kurioserweise gibt er in dieser Ausgabe (mit der Verlagsnummer EMS 5446/D1) nur die bekannte Fassung von 1834 wieder. In der Urtextausgabe des G. Henle Verlags finden sich beide Fassungen hintereinander abgedruckt.

Die sogenannte Frühfassung der Toccata op. 7 ("Exercice") ist ein faszinierendes Werk. Schumann selbst hat sie "viel und eigentümlich" gespielt, wie sein Heidelberger Studienkollege Anton Theodor Töpken berichtet, "in ruhigem, mäßigem Tempo". Natürlich enthält sie, neben derselben Tonart C-dur und der Sonatensatzform, wesentliche Elemente der späteren "Toccata": Beide Sätze sind zweifellos Bravourstücke, die maßlos beeindrucken können. Sie sind beide aus dem Geist der Klavierübung geboren, gespickt mit haarsträubenden klaviertechnischen Schwierigkeiten. Aber es sind keineswegs "Etüden". Dazu sind sie viel zu originell. Beide Sätze wirken wie eine unaufhaltsam vorwärtsdrängende (Dampf-) Maschine, weil es statt abwechslungsreicher Rhythmen einen einzigen Bewegungsablauf gibt, nämlich ein Kontinuum ununterbrochener Sechzehntelnoten. Ohne Rast und Ruh, unaufhaltsam, kraftvoll, eben von motorischer Energie. Beide Sätze beginnen, nach kurzem Eröffnungs-Vorhang, auch mit derselben charakteristischen Doppelgriff-Wechselfigur der Finger 1+5 ? 2+4 ? 1+5 ? 2+4 etc. der rechten Hand. Und beide Fassungen bringen schließlich im a-moll-Mittelteil ("Durchführung") die schwer spielbaren repetierenden Oktaven, die ab einem gewissen (nötigen) Tempo nur wirkliche Klaviervirtuosen mit äußerster Lockerheit realisieren können.

Es gehört zwar sicherlich nicht allzu viel Musikalität dazu, die Toccata Schumanns und ihre Vorläuferin, die "Exercice", zu spielen - aber ein "Klaviervirtuose", das sollte man schon sein. Denn man benötigt Fähigkeiten, die man sonst nur noch aus dem Hochleistungssport kennt: Immense Kraft und gleichzeitig Lockerheit, immense Ausdauer, immense Sprungsicherheit und schließlich eiserne Nerven. Wir begegnen deshalb der Toccata im Konzertsaal relativ selten (nicht wenige der größten Pianisten von gestern und heute haben das Stück nie gespielt), sehr häufig aber in der Musikhochschule. Es ist ein ideales "Trainingsstück" für junge, angehende Pianisten.

Und das gilt in noch stärkerem Maße für die "Exercice". Denn die technischen Schwierigkeiten treten geradezu komprimiert auf, ja, sind sogar noch gegenüber der Toccata gesteigert. Die kurzen, sanglichen Ruhepole der "Toccata" fehlen ihr noch völlig, wie zum Beispiel die freundliche, punktierte Melodie (erstmals in T. 44 ff.). Nur ein detaillierter Vergleich könnte das alles genauer darstellen, und diesen muss ich aus Platzgründen dem Interessierten selbst überlassen. Aber klar ist: Hier werden sehr viele extreme Fingerübungen, die dem virtuosen Pianisten abzuverlangen sind, in einen mitreißenden musikalischen Fluss eingebettet.

Die "Toccata" ist um 100 Takte länger als die "Exercice". Und das nicht etwa, weil diese noch mehr technische Schwierigkeiten anhäuft, sondern im Gegenteil, weil sie letztlich raffinierter und ausgeglichener als die "Exercice" komponiert ist. Das betrifft vor allem die harmonischen Progressionen, die in der Frühfassung oftmals an gewisse uninspirierte Modulationsübungen, allerdings in ungewohnt rasantem Tempo, erinnern. Schon der Beginn kostet nicht die angeschlagene C-dur-Fläche aus, wie es die "Toccata" tut; schon nach vier Takten sind wir in Es-dur (in der Toccata erst nach 16 Takten).

Und weil wir schon bei leiser Kritik an der "Exercice" sind: es fehlt ihr der taktweise rhythmische Puls der "Toccata", wie er sich dort im kleinen Finger der linken Hand wunderbar durchzieht: kurz – lang – kurz / kurz – lang – kurz etc. Dieser wird in großartiger Komprimierung bereits mit den beiden Eröffnungstakten und ihren starken Akkorden ins Gleis gesetzt. In der "Exercice" hingegen beginnt Schumann mit einer geradezu präpotenten Akkordkaskade. Hier will der Komponist überrumpeln, statt überzeugen. Und das setzt sich letztlich fort bis zum Schluss, der in der Toccata leise verklingt (was übrigens Friedrich Wieck monierte), während die "Exercice" endet, wie sie begann: mit einem Donnerschlag.

Die Frühfassung ist dennoch ein genialer Wurf, vor allem ein Gegenentwurf zu den von Schumann als stupide empfundenen Etüden seiner Zeit. Wie intensiv, ja geradezu selbstzerstörerisch Schumann seine Finger trainierte ist nur zu gut bekannt. Friedrich Wieck wollte ihn eigener Aussage gemäß zu einem noch größeren Virtuosen und Künstler machen als die seinerzeit so überaus verehrten Moscheles und Hummel (zu dessen Klaviersonate op. 81 es wohl innere Bezüge gibt). In der technischen Ausbildung seiner Tochter Clara hatte Wieck offenkundig größte Erfolge. Bei Schumann musste er scheitern. Denn in Schumann war in jener Zeit bereits der Keim zum Komponisten-Künstler gelegt, er war nie der geborene Virtuose. Man hat geradezu den Eindruck, dass sich Schumann mit der endgültigen Aufgabe der Pianistenlaufbahn aus selbst angelegten Fesseln befreit und ihm damit der Durchbruch zur eigentlichen Entfaltung gelingt. "Man müsste die Musick von innen heraus hören", notiert er am 5. Juni 1831 in sein Tagebuch! Spätestens ein Jahr später war es wegen unauflösbarer physiologischer Probleme am Mittelfinger der rechten Hand vorbei mit der Karriere als Virtuose.

Wer sich übrigens ein Bild von der Vielzahl der systematischen Fingerübungen Wiecks verschaffen möchte, sollte sich zum Beispiel einmal dessen gedruckte "Klavierstudien" genauer ansehen. Man wird darin einige Modelle wiederfinden, die in höchst verwandelter und nicht selten gesteigerter Form in Schumanns "Exercice" und "Toccata" wieder auftauchen.

Die Verwandlung des ungeschliffenen "Exercice"-Rohdiamanten (1830) zur raffinierten Virtuosen-"Toccata" (1834) geschieht symptomatischer Weise genau in jenen Jahren dieses für Schumanns Leben so entscheidenden Wandels zum großen Künstler. Beide Werke zu kennen, versetzt uns also auf rein musikalischer Ebene in die Lage, auch das Wachsen und Werden Schumanns besser zu verstehen: Er reifte und verwandelte sich genau in diesen wenigen Jahren vom angehenden Klaviervirtuosen, der auch komponierte, zu einem Klavier spielenden Komponisten. Ein entscheidender, nein: der entscheidende Unterschied.

Letztlich erfasst Schumann den wesenhaften Unterschied beider Werke schon allein mit seiner Titelgebung. Die ursprünglich jugendlich-kraftmeierische "Exercice" wandelt sich in eine "nicht mehr so wilde, sondern viel sittigere" Toccata (Schumann am 18. August 1834 an Töpken). Damit stellt er auch das Werk (und sich selbst) gleichsam in einen großen musikhistorischen Kontext, der von der frühbarocken Claviermusik (etwa eines Frescobaldi), über vielerlei Werke Bachs (ich fühle mich immer auch an das c-moll-Präludium des ersten Wohltemperierten Klaviers BWV 847 erinnert) bis letztlich zu Debussy, Ravel, Chatschaturjan und zu Prokofjew reicht, um nur ein paar wenige berühmte Beispiele zu nennen. (Eine außerordentlich reiche "Toccaten-Sammlung" in Schrift und Ton findet der tiefer Interessierte HIER )

Und nun, nach so viel Worten, eine Liste, die sicherlich den einen oder die andere freuen wird. Ich habe über die letzten Monate nämlich sämtliche Aufnahmen zusammen gesammelt, die mir zu Schumanns Toccata unter die Computertastatur kamen. (Von der "Exercice" gibt es verständlicherweise noch keine einzige Aufnahme, denn das Werk ist ja jetzt nahezu erstmals bei G. Henle im Druck erschienen.) Sollten Sie in der folgenden Liste Einspielungen vermissen, würde es mich sehr freuen, wenn Sie mir das als E-Mail melden wollten (davidsbuendler@henle.com). Dann könnte ich mit der Zeit die Liste von heute, mit immerhin 55 Belegen, dank der Leser/innen des Schumann-Forums 2010 verbessern und vervollständigen. Vielen Dank!

Liste mit Toccata-Aufnahmen

In vielen Fällen kann man sich mittels des angegebenen Links die Interpretation sofort anhören (dank YouTube) oder man bekommt über das Plattenlabel entsprechende Ausschnitte zu hören.

Ich bewundere alle diese Pianisten. Sie stellen sich fraglos einem der schwersten Stücke, von Schumann, aber auch der gesamten Klavierliteratur. Mir imponieren insbesondere alle diejenigen Aufführungen, in denen der Spieler größte motorische Energie entfaltet, das angeschlagene Tempo also durchhält und dennoch alle Noten packend spielt. Geschwindigkeitsweltmeister ist zweifellos derzeit der Chinese Tang Ying, der das seinerzeit vom legendären Simon Barer angeschlagene, aber nicht durchgehaltene Wahnsinns-Tempo tatsächlich schweißtreibend bis zum Schluss aufrecht erhält. Andere Aufnahmen überwältigen und begeistern mich allerdings viel stärker. (Ich habe meine Favoriten, die Sie unbedingt kennenlernen sollten, in der Liste blau gekennzeichnet.)

 

Zum Beschluss als YouTube-Video eine dieser Aufnahmen vom Schumann-Toccaten-Olymp: György Cziffra bleibt der Meister aller Klassen. Er scheint geradezu Lust zu empfinden, wenn er dieses haarsträubend schwere, so wunderbar kraftvolle, moderne, lebensfreudige Stück mit dem nötigen insistierenden Drive spielt und dabei dennoch ganz locker bleibt.

 

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