Frédéric Chopin (1810–1849)

Im meinem Blog-Beitrag vom 21. März 2016 habe ich die „Verwirrung“ beklagt, die um Haltebögen in Chopins 1. Scherzo besteht. Inzwischen bin ich, salopp formuliert, 2 Scherzi weiter, um 2 Scherzi gealtert – und leider deutlich verwirrter. Das 2. Scherzo op. 31 und das 3. Scherzo op. 39 sind soeben in meiner Neu-Edition erschienen. Es liegt daher nahe, erneut aus der Chopin-Werkstatt zu berichten und ein paar Schlaglichter auf Probleme dieser Ausgaben zu werfen. Also: Verwirrung – Folge 2&3!

 

Stemma zu den Quellen von Scherzo op. 31

Die Quellenlage, das war zumindest mein Eindruck, wird mit jedem Scherzo noch ein wenig komplizierter. Zum h-moll Scherzo ist kein Autograph überliefert, zum 2. Scherzo hingegen haben wir sowohl ein Autograph (A) als auch eine Abschrift (AB), die von Chopin überprüft wurde. Das Autograph war Stichvorlage für die französische Erstausgabe (EF), die Abschrift für die deutsche Erstausgabe (ED). Bevor die französische Ausgabe erschien, las Chopin jedoch offensichtlich zwei Fahnenkorrekturen; der Textstand nach der 1. Korrektur war die Vorlage für die englische Erstausgabe (EE). EE und ED wurden von Chopin nicht Korrektur gelesen. In einem Stemma lassen sich diese Abhängigkeiten gut erfassen.

Was diese schematische Darstellung nicht hergibt sind folgende Beobachtungen: A weist viele Anzeichen dafür auf, dass Chopin mit der Notation noch nicht ganz „fertig“ war. Vieles ist unvollständig notiert (Dynamikangaben fehlen oft), und alles spricht dafür, dass Chopin diese Dinge dann in den Fahnenkorrekturen für EF nachtragen wollte (was nur sehr begrenzt geschah). Die Abschrift AB hingegen wurde von Chopin sehr sorgfältig korrigiert. Ich musste also folgenden Schluss ziehen: EF ist zwar die Fassung letzter Hand, also die Quelle, die zuletzt von Chopin korrigiert wurde. Dennoch weist sie einen früheren und „schlechteren“ Textstand auf als AB. Obwohl also AB nicht die Fassung letzter Hand repräsentiert, ist sie die „beste“ Quelle und wurde folglich Hauptquelle meiner Edition. Diese Quellenbewertung zieht natürlich Probleme nach sich, denn auch „letzte“ Änderungen, die Chopin in EF anbrachte, müssen irgendwie dokumentiert werden.

Der einzige Ausweg besteht in einem ausführlichen Fußnotenapparat, der auf abweichende Lesarten hinweist und sie dem Spieler erklärt. Ich möchte hier nur ein Beispiel herausgreifen, da es die „Verwirrung“ am besten illustriert und zudem recht prominent ist:

Ausschnitt aus dem Scherzo op. 31

Es gibt in dieser Passage des Trio-Teils zwei Aspekte, die bei Chopin-Spielern immer wieder Stirnrunzeln hervorrufen: die Frage nach Haltebögen (rote Kästen) und die Frage nach dem punktierten Rhythmus (rot eingekreist). Die Parallelstellen weichen voneinander ab, und die Frage ist naheliegend, ob das Chopins Wille oder ein Unfall in der Überlieferung war. Die Fußnoten meiner Edition informieren den Spieler darüber, dass es hier einen gewissen Interpretationsspielraum gibt, und die Ausführungen im Kritischen Bericht zu T. 265/266 und zu T. 268 etc. erläutern dies genau.

Die Verwirrung der Quellenlesarten wird dadurch gewissermaßen potenziert, dass spätere Ausgaben zusätzlich Varianten und Alternativen einführen, die noch heute durch die Chopin-Welt geistern (etwa die im Kritischen Bericht genannten Ausgaben von Mikuli, Scholtz, Paderewski).

Im 3. Scherzo wird die Ausgangslage nun noch unübersichtlicher. Hier das Stemma zu diesem Werk:

Stemma zu den Quellen von Scherzo op. 39

Es gibt wiederum drei Erstausgaben (EF, ED, EE), die nun jedoch in verschiedenen Auflagen existieren. Es gibt eine von Chopin überprüfte Abschrift AB und schließlich drei autographe Quellen, die in eckige Klammern gesetzt sind. Diese Quellen sind verschollen; ob es sie wirklich alle gegeben hat, ob sie wirklich an genau diesen Stellen des Stemmas standen – das ist Spekulation. Es ist jedoch nötig, derartige Zwischenquellen anzunehmen, da sich anders die Varianten in den Erstausgaben kaum erklären lassen. Eine wahrlich „harte Nuss“. Hauptquelle meiner Edition ist die französische Erstausgabe, da im Fall des 3. Scherzos die Abschrift AB von Chopin leider nur punktuell geprüft wurde – EF erwies sich nicht nur als die späteste, sondern trotz aller Stichfehler auch als die zuverlässigste Quelle. Die überlieferten und vermutlich autorisierten Varianten aus den übrigen Quellen sind jedoch zahlreich, die Fußnoten in meiner Ausgabe ebenfalls. Zwei Beispiele:

Ausschnitt aus Scherzo op. 39

Manche Pianisten werden vielleicht enttäuscht sein, weil ich ihnen die punktierte Lesart in T. 31 und Parallelstellen genommen habe. Es gibt aber gute Gründe dafür, T. 31 und 47 abweichend zu edieren:

Ausschnitt aus dem Kritischen Bericht zu op. 39; (Quellen St und Je sind Schülerexemplare)

Eine Stelle, die gleich in drei Varianten existiert, ist T. 460. Alle drei Akkordvarianten sind von Chopin vermutlich autorisiert – was zu den Zeitgenossen-Berichten passt, denen zufolge Chopin eigene Werke nie zweimal auf die gleiche Weise spielte.

3. Scherzo, T. 458 –461 mit Fußnote

Chopin hätte über die Nöte heutiger Herausgeber möglicherweise gelächelt. Dennoch ist es unsere Aufgabe, die Überlieferung zu dokumentieren, autorisierte Varianten von später „erfundenen“ zu trennen, einen Notentext zu edieren, der auf einer Hauptquelle basiert und der Versuchung widersteht, Quellenstränge zu vermischen und die jeweils „schönsten“ Lesarten auszuwählen. Ein schwieriges, aber spannendes Unterfangen! Und am Ende sollte die „Verwirrung“ einer „Klarheit“ gewichen sein, die den Interpreten informiert und ihm gleichzeitig die Freiheit lässt, eigene Entscheidungen zu treffen.

Sie ahnen es sicher schon – die „Verwirrung um Chopins Scherzi, Folge 4“, lässt nicht mehr lange auf sich warten…

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