Das Autograph von Beethovens Klaviersonate op. 90 gehört zu der großartigen Sammlung des Beethoven-Hauses in Bonn, die man seit einigen Jahren digitalisiert im Internet bewundern kann. Auch wenn die Handschrift im Vergleich zu vielen anderen Manuskripten Beethovens relativ leicht zu entziffern ist, so fragt man sich doch beim ersten Betrachten vieler Seiten, ob wir es hier mit dem „fertigen“ Werk zu tun haben.
Schlägt man zum Beispiel die Seite 8 des Autographs auf, so stellt sich der Eindruck ein, dass Beethoven die vollständige Notierung im untersten Klaviersystem nach dem ersten Takt aufgibt und die weiteren Takte nur noch skizziert:

Autograph Seite 8 – Ausschnitt

Autograph Seite 8 – Ausschnitt

Und doch haben wir es hier mit der Stichvorlage des Werks zu tun, also jenem Manuskript, aus dem der Stecher des Originalverlags den Notentext auf die Druckplatten übertrug. Wie kommt er aber dann zu diesem Ergebnis:

Erstausgabe – Ausschnitt

Erstausgabe – Ausschnitt

Des Rätsels Lösung liegt natürlich in Beethovens Hinweis „come sopra“, den er an dieser Stelle und an einigen anderen im Manuskript notiert, um den Stecher anzuweisen, die vorangegangene Stelle – in diesem Fall den Anfang des 1. Satzes – auch hier „wie oben“ zu notieren. Diese „come sopra“-Notierung hat es in sich. Denn sie hat schon bei der Erstausgabe der Sonate und dann in zahlreichen späteren Ausgaben bis in unsere heutige Zeit zu Verwirrung und unterschiedlichen Deutungen geführt. Konkret geht es um den Auftakt des Themas. Stellen wir diese Nahtstelle des letzten Taktes der Durchführung und des ersten Taktes der Reprise noch einmal im Autograph und der Erstausgabe untereinander:

Der Stecher übernahm den letzten Takt der Durchführung einschließlich des Auftaktes zum Thema der Reprise wörtlich aus dem Manuskript und berücksichtigte das „come sopra“ ab der 1. Zählzeit der Reprise. Er setzte auch die vorhandene Bleistiftergänzung um: „Jemand“ hatte beim g1 des Auftaktes noch ein Achtelfähnchen und eine Achtelpause ergänzt (sie geht über beide Systeme und ist nicht leicht zu identifizieren). In der linken Hand ist der Auftakt kurioserweise nicht geändert und bleibt eine Viertelnote – es sei denn man interpretiert die über beide Systeme notierte Achtelpause auch für beide Systeme. Dann hätte „man“ das Fähnchen in der linken Hand vergessen und der Stecher die intendierte Lesart nicht verstanden, die wohl diese wäre:

Ausgabe von Alfredo Casella

Ausgabe von Alfredo Casella

Dieser Lesart folgt auch manche moderne Ausgabe, etwa die aktuelle Ausgabe von ABRSM Publishing. Und viele historische Ausgaben (z.B. diejenigen Schenkers, Schnabels und Toveys) halten sich ganz sklavisch an den Text der Erstausgabe. Aber ist das wirklich der von Beethoven intendierte Übergang in die Reprise? Kann man, ja muss man nicht vielleicht die „come sopra“-Notierung im Autograph anders interpretieren? Nun, das tat schon ein adeliger Zeitgenosse Beethovens, sein Gönner und Schüler, Erzherzog Rudolph von Österreich. Rudolph war einige Zeit stolzer Besitzer des Autographs der Sonate op. 90, und als Beethoven es für den Stich der Originalausgabe benötigte, kopierte sich Rudolph den Notentext für seine eigene Bibliothek und seinen persönlichen Gebrauch. Er interpretierte die „come sopra“-Anweisung in der Reprise so, wie sie auch der Herausgaber unserer Urtextausgabe edierte:

Urtextausgabe G. Henle Verlag

Urtextausgabe G. Henle Verlag

Zu dieser Ansicht kam auch der Herausgeber der Urtext-Ausgabe in der renommierten Wiener Urtext Edition. Beide Urtext-Herausgeber entschieden sich damit gegen die von Beethoven in den Druckfahnen nachweislich mehrfach Korrektur gelesene Erstausgabe, die den vermeintlich „letzten Willen“ Beethovens wiedergibt. Wir wissen zwar, dass der Komponist ein eher schlechter Korrekturleser war – doch könnte er einen so offensichtlichen „Fehler“ wirklich drei Mal übersehen haben? Wollte man dies annehmen, bräuchte man gute Gründe. Und die sind nicht leicht zu finden. Hier sind zwei Indizien:

(1) Betrachtet man die Niederschrift dieser zwei Takte im Autograph hinsichtlich der Tintenfarbe und der Federstärke, so fällt auf, dass das Schriftbild MIT dem Auftakt wechselt. Davor ist die Tinte dunkler, und die Feder ist breiter oder mit mehr Druck eingesetzt. Im Schreibfluss gab es also vor dem Auftakt eine Unterbrechung, die vielleicht auch die Musik gruppiert. Damit könnte man schließen, dass das „come sopra“ schon ab dem Auftakt gilt. So las es wohl Erzherzog Rudolph (der von den vielleicht erst nachträglich ergänzten Bleistiftergänzungen – siehe (2) – nicht „abgelenkt“ wurde).

(2) Die Bleistiftergänzungen beim Auftakt werden gerne als Beleg angeführt, dass die Lesart, die etwa bei Alfredo Casella wiedergegeben ist (siehe oben), von Beethoven nachträglich sanktioniert wurde. Da er hier nochmals eingriff – so der Argumentation – muss ihm diese Lesart bewusst gewesen sein und er muss sie so gewünscht haben. Allerdings wurde bereits aus berufenem Munde bezweifelt, ob die Bleistiftergänzung überhaupt von Beethoven stammt und nicht vielleicht vom damaligen Verlagsmitarbeiter Anton Diabelli, der die Druckfahnen der Originalausgabe ebenfalls Korrektur las. Zu dieser Einschätzung tendiert Michael Ladenburger, Custos des Beethoven-Hauses und Herausgeber der im dortigen Verlag erschienenen Faksimileausgabe des Autographs (1993). Das Argument der nachträglichen Sanktionierung fällt natürlich in sich zusammen, wenn der Urheber der Ergänzung nicht der Komponist war.

Reichen diese Indizien, um sich gegen die vermeintlich autorisierte Lesart der Erstausgabe zu entscheiden? Murray Perahia und ich bezweifeln es (nicht zuletzt deshalb revidieren wir gerade die Urtext-Ausgabe im G. Henle Verlag).

Musikalisch lässt sich das Ganze vermutlich nicht entscheiden. Hier zwei überzeugende Interpretationen: Wilhem Kempff spielt den vollen Akkord als Auftakt , Claudio Arrau nur die Terz e/g1.

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