Freunde des Humoristen Wilhelm Busch erinnern sich sicherlich an die Geschichte vom Meister Zwiel, der, in einer kalten Winternacht von einem Wirtshausbesuch zurückgekehrt, vor der Haustüre steht und vergeblich das Schlüsselloch für seinen bereit gehaltenen Schlüssel sucht.
Die Geschichte geht tragisch aus: Meister Zwiel verliert den Schlüssel und fällt auf der Suche nach ihm in ein Wasserfass, in dem er schließlich erfriert.
Ganz so gefährlich ist das Finale von Robert Schumanns Streichquartett F-dur op. 41 Nr. 2 für Bratschisten zwar nicht, aber es gibt eine Verbindung zu Meister Zwiel. Denn auch die Musiker haben gleichsam einen Schlüssel in der Hand, müssen aber das passende Schlüsselloch – sprich: die richtige Position für den Schlüssel – suchen.
Konkret geht es um Takt 182 in der Reprise des Finalsatzes. Schumann notierte im Autograph in Takt 179 für die Viola den Wechsel zum Violinschlüssel (und wiederholte diesen Wechsel nach dem Zeilenwechsel in Takt 180 nochmals ausdrücklich), vergaß dann aber, die Rückkehr zum Altschlüssel anzugeben:
Unstrittig ist, dass Takt 183 im Altschlüssel zu lesen ist, also als Zweiklang e1/b1 – harmonisch ist jede andere Lesart ausgeschlossen. Wie verhält es sich aber mit dem Auftakt-Achtel davor? Soll der fehlende Altschlüssel davor oder dahinter ergänzt werden? Ist das Achtel als c (Altschlüssel) oder als b (Violinschlüssel) zu spielen? Auf den ersten Blick erscheint die Sachlage eindeutig: Der von den anderen Instrumenten intonierte F-dur-Dreiklang legt die Quinte c nahe. Einige Ausgaben haben daher den fehlenden Schlüssel kommentarlos vor dem Auftaktachtel ergänzt.
Diese Position steht allerdings in Widerspruch zu den von Schumann selbst Korrektur gelesenen Drucken:
Natürlich ist nicht auszuschließen, dass es sich in der Stimmenausgabe um einen Stichfehler handelt, der übersehen wurde und – da die Partitur auf der Basis der Stimmenausgabe gestochen wurde – später unbemerkt in die Partitur gelangte. Aber sollte Schumann tatsächlich ein solch markanter Fehler gleich zweimal entgangen sein?
Aufschluss darüber würde die vom Komponisten durchgesehene Kopistenabschrift in Stimmen geben, die er für alle drei Streichquartette von seiner autographen Partitur vornehmen ließ und die als Vorlage sowohl für Proben und Aufführungen als auch für den Druck der Stimmenausgabe diente. Dort muss der Kopist Carl Brückner den Schlüssel ergänzt haben oder aber zumindest auf den fehlenden Schlüssel hingewiesen haben, der dann vielleicht sogar von Schumann selbst ergänzt wurde. Leider ist diese Abschrift nur für das erste Quartett in a-moll erhalten – von Brückners Kopien der Quartette in F-dur und A-dur fehlt bisher jede Spur.
Bleibt als weitere Möglichkeit zur Klärung der Blick auf die Parallelstelle in der Exposition (Takt 40):
Hier gibt es zwar keine Schlüsselprobleme, da die Bratsche im Altschlüssel verbleibt. Allerdings ergeben sich über die tonale Versetzung (Exposition C-dur; Reprise F-dur) hinaus kleine Varianten in der Struktur, die den direkten Vergleich erschweren. Zwar steht das Auftaktachtel der Viola in Takt 40 einerseits im Quintabstand zu dem des Cellos (Cello c, Viola g), was in Takt 178 für die Lesart c spräche (Cello F/c, Viola c), andererseits aber geht bei dieser Lesart der Oktavsprung der Viola (Takt 40 f. g–g1, Takt 182 f. b–b1) verloren, der motivisch ein markantes Element dieses Satzes bildet. Aber wäre das b in Takt 182 nicht doch eine ungewöhnlich harte Dissonanz zu dem F-dur-Dreiklang? Dem kann entgegen gehalten werden, dass sich Sekundreibungen sowohl in Takt 41 (Cello f1, Viola g1) als auch in Takt 183 (untere Töne Cello f, Viola e1) finden. Es könnte also durchaus sein, dass Schumann ganz bewusst die schon in der Exposition durch die Haltenoten der Violinen auftretende harmonische Spannung in der Reprise noch verschärfen wollte. Allerdings lässt der Blick auf die Parallelstelle keine eindeutige Schlussfolgerung zu.
Der Herausgeber unserer in Kürze erscheinenden Neuausgabe der drei Streichquartette Schumanns (Urtext HN 873, Studien-Edition HN 9873) hat sich daher entschlossen, der Lesart der Erstausgaben den Vorzug zu geben, in einer Fußnote jedoch auf die Bemerkungen zu verweisen, wo Quellenlage und Parallelstelle erläutert werden:
Ich sehe das anders. Aus zwei Gründen:
1. Ein b in T. 182 der Bratschenstimme erschiene mir unlogisch, weil alle anderen Stimmen ein eindeutiges F-Dur inclusive der Terz a spielen. Es wäre eine unnötige Härte, die falsch klingt, zumal sie sich nicht auflöst, es hört sich an, als hätte der Bratschist sich verspielt.
2. Es ist wahrscheinlicher, passiert eher, dass nach einer Pause der
Schlüsselwechsel vergessen wird (oder eben vom Korrekturleser die Tatsache, dass da ein Schlüsselwechsel fehlt, übersehen wird), wenn der Einsatz danach logisch ist. Mitten in einem melodischen Geschehen fällt es eher auf. Von daher wäre zu erklären, dass vielleicht sogar Schumann selbst es übersehen hat, weil der Einsatz nach der Pause eindeutig als Altschlüssel gesehen wurde. –
Könnte es übrigens nicht sein, dass das nicht identifizierbare Zeichen in T. 182 der Bratschenstimme im Autograph – zwischen der 3. und 4. Achtel – ein handschriftlich “verunglückter” (oder angedeuteter) Altschlüssel ist?
Sehr geehrter Herr Merkes,
vielen Dank für Ihre Einschätzung, die ich gerne an den Herausgeber weitergebe. Ich vermute auch, dass die Bratschisten größtenteils (vielleicht schon aus Tradition?) hier c spielen werden, um die herbe Dissonanz zu vermeiden, aber – und darum ging es mir – philologisch ist die Sache keineswegs eindeutig. Letztlich können wir hier nur den Musiker auf die Problematik aufmerksam machen und müssen ihm die Entscheidung überlassen.
Einen Punkt kann ich zumindest abklären: Das gestrichene Zeichen im Autograph in T. 182 war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Viertelpause (durch die Streichung nicht mehr ganz eindeutig zu erkennen), aber sicherlich kein Schlüssel (vgl. Schlüssel am Beginn der Zeile).
Mit freundlichen Grüßen
Peter Jost
Ein Indiz für c in T. 182 wäre wohl (eher als T. 40) die sich direkt anschließende Stelle in T. 186/187. Hier findet ein Stimmentausch statt: die 2. Vl. übernimmt die leitende Stimme der 1. Vl., die Va. übernimmt den Part der 2. Vl. Die 1. Vl. spielt (wohl aus spieltechnischen Gründen) nicht genau die Stimme der Va. nach sondern ändert den Doppelgriff zu b”-c’. Der Auftakt ist hier jedoch eindeutig c”. Die Musik dieser Takte ist abgesehen von der Verlegung der Stimmen exakt identisch mit dem Vorhergehenden und kann daher zwar nicht als textkritisches, wohl aber als musikalisches Argument für c in T. 182 gelten. (Übrigens bringt auch die alte Schumann-Ausgabe, die ja immerhin von Clara Schumann erstellt wurde, c in T. 182. Wie wird denn diese Ausgabe von ihrem Herausgeber bewertet?)
Sehr geehrter Herr Selinger,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Der Herausgeber hat nochmals bekräftigt, dass er bei seiner Lösung gerne bleiben möchte; musikalisch spricht sicher einiges für c, philologisch allerdings auch sehr viel für b. Das c in der Alten Gesamtausgabe sollte man – und da stimme ich ihm zu – nicht überbewerten; Clara Schumann oder wer auch immer die Durchsicht der Druckvorlage übernommen hatte, dürfte aus Sicht des/der Musiker/s/in einen klaren Stichfehler vermutet haben (wie es Musiker auf den ersten Blick sicherlich auch heute noch tun). Hoffen wir, dass die verlorene Stichvorlage eines Tages auftauchen wird …
Mit freundlichen Grüßen
Peter Jost
Ich sehe das als eine harmonische Verschärfung, eine größere Spannung durch die Dissonanz, in der Reprise. Also, ein b im T. 182. Das ist aber eine schwierige Sache, nicht einfach zu lösen.
Eine wirklich interessante Stelle, die fast schon an den berühmten (und kontroversen) Schlüsselwechsel in den Diabelli-Variationen erinnert! Mir erscheinen für eine Bewertung drei Argumente wichtig: 1. Harmonisch macht das b der Bratsche keinen wirklichen Sinn, während das verdoppelte c (als Quinte über der Tonika F) den Grundton des folgenden Taktes (Dominantseptakkord auf C über der orgelpunktartig „gestreckten“ Tonika F-Dur) psychologisch aufwertet. Außerdem entspricht der Takt auf diese Weise harmonisch dem korrespondierenden Takt 40 in der Exposition. 2. Schumann hätte das b (wenn er es tatsächlich gemeint hätte) wohl sicher bereits im Altschlüssel notiert, um den Oktavsprung b-b’ augenfällig zu machen. Dies entspricht auch der alten Stecherregel, Schlüsselwechsel innerhalb von großen Sprüngen nach Möglichkeit zu vermeiden. 3. Der “Quasi-Stimmtausch” zwischen Bratsche und Cello im Verhältnis zur Exposition spricht ebenfalls für c, das sich als Steigerung des Sprungs in die Septime des folgenden Akkords deuten läßt: In T. 40 springt das Cello um eine Undezime von c nach f’, in T. 182 die Bratsche um eine Quartdezime von c nach b’ (und vermeidet beiläufig die anfechtbaren, mindestens jedoch uneleganten Septimparallelen der Lesart mit b). Insofern scheint mir die Lesart c wesentlich plausibler! Die Sache bleibt jedenfalls spannend …
P. S.: Das durchgestrichene Zeichen scheint mir übrigens eher ein f (für forte) als eine Viertelpause zu sein.
Lieber Herr Jost,
es gibt ein kleines Indiz, daß in der Tat c (also der vorgezogene Bratschenschlüssel) gemeint sein dürfte:
im Manuskript von Schumanns unveröffentlichtem zweihändigen Klavierauszug der Quartette ist in den T. 177-182, 1. Achtel, ursprünglich vom Kopisten nur die Partie der 1. Violine eingetragen. Violine 2, Bratsche und Cello sind später handschriftlich von Schumann selbst nachgetragen worden, auch das forte-Zeichen in T. 182. Das letzte Achtel in T. 182 stammt wiederum vom Kopisten und hat nur f/c, kein b.
Wenn man nun davon ausgeht, daß Schumann die unmittelbar vorhergehenden Bratschen-Takte sehr intensiv angesehen haben muß, da er sie selbst in den Klavierauszug einträgt, daß er das Forte f in T. 182 nachträgt, so hätte er doch eigentlich einen potentiell falschen Ton in diesem Takt bemerken sollen?
Herzliche Grüße
Ihr
Matthias Wendt
Das gestrichene Zeichen in T. 182 ist eindeutig eine Viertelpause, Sie haben völlig recht.