Dass die Bläser in unseren Katalog erst 1972 mit einer leichten Verspätung von zweieinhalb Jahrzehnten Einzug fanden, war in unserem Blog schon einmal Thema. Bezeichnenderweise geschah dies mit Beethovens Opus 16 (HN 222) – jenem merkwürdigen Zwitterwerk, das zugleich als Klavierquartett mit drei Streichern und als Klavierquintett mit vier Bläsern überliefert ist (wie dem Titelblatt der Erstausgabe zu entnehmen ist).

Titelseite der Erstausgabe von Beethovens Opus 16. Mollo 1801

Klavier und alternative Streicherstimmen in diesem Werk bildeten damals gewissermaßen die Brücke zum traditionellen Repertoire des Verlags. Auf diesem Weg folgte inzwischen ein ganzes Heer von Bläserausgaben: von der barocken Trio- bis zur klassischen Duosonate über diverse gemischte Besetzungen und die großen Solokonzerte. Reine Bläserkammermusik findet sich darunter eher selten, aber bei einem Komponisten können wir diesen Teil seines Œuvres seit kurzem vollständig anbieten – und wieder ist es: Beethoven!

Dass wir es hier innerhalb weniger Jahre „von Null auf Hundert“ geschafft haben, ist natürlich kein Zufall, sondern unserem Bestreben geschuldet, den Notentext unserer wissenschaftlichen Gesamtausgaben möglichst schnell auch in praktischen Ausgaben zu verbreiten. Und so folgten dem 2007 innerhalb der Gesamtausgabe Beethoven Werke von Egon Voss vorgelegten Band Kammermusik mit Blasinstrumenten (HN 4172) insgesamt zehn verschiedene Urtext-Ausgaben und sieben zugehörige Studien-Editionen bis zur dieser Tage erschienenen Parthia op. 103 für Bläseroktett (HN 1254/7254).

Und warum dauert das mehrere Jahre? Die Antwort ist ganz einfach: Weil die Gesamtausgabe zwar eine hervorragende Basis für unsere Urtext-Ausgaben liefert, aber ihre Inhalte für den Musiker in mancher Hinsicht aufbereitet werden. Das gilt natürlich zuallererst für den aus der Partitur- in Stimmenform zu bringenden Notentext. Zwar funktioniert dieses sogenannte „Stimmenausziehen“ im Zeitalter des Computernotensatzes fast automatisch, eine optimale Seitenaufteilung mit den gewohnt guten Wendestellen und der richtigen Auswahl an Stichnoten ist aber echte Fleißarbeit  – und kann bei groß besetzten Werken wie dem erwähnten Oktett schon etwas länger dauern.

Zudem ist bei Bläsern immer zu bedenken, dass wir auf anderen Instrumenten und in anderen Stimmungen spielen als zu Beethovens Zeit. Wer hat heute schon eine Klarinette in C oder liest seine Posaunenstimme mal eben im Altschlüssel? Folglich enthält unsere Ausgabe der Drei Duos für Klarinette und Fagott WoO 27 (HN 974) eine zusätzliche Stimme für Klarinette in B, die der Drei Equale für vier Posaunen WoO 30 (HN 1151) Alternativen im Bassschlüssel, und die zahlreichen Werke mit Hörnern in Es oder B werden selbstverständlich mit einer alternativen Stimme für Horn in F versehen (zur im Sextett op. 81b außerdem enthaltenen zusätzlichen Kontrabass-Stimme, die aus dem Sextett ein Septett machte, siehe den früheren Blogbeitrag „Wieviel Bass darf’s denn sein“).

In der Regel erscheint parallel zur Stimmenausgabe auch eine Studien-Edition, aber das engverzahnte Miteinander in Duokompositionen lässt manchmal eine Spielpartitur sinnvoller erscheinen – wie beim Flötenduo WoO 26 (HN 973), wo sich dies mit einer dreiseitigen Leporello-Aufmachung kombinieren lässt, die den Musizierenden kein Blättern im Satz abverlangt.

Neben solchen „äußerlichen“ Aspekten der Gestaltung tauchen bei der Umformung einer Gesamtausgabe in eine praktische aber auch inhaltliche Fragen auf – und insbesondere bei der Beethoven’schen Bläserkammermusik. Offenbar achtete Beethoven diesen Teil seines Œuvres nach 1800 nur noch gering und kümmerte sich kaum um dessen Verbreitung. Unser Herausgeber Egon Voss vermutet, dass die Bläserkammermusik für den freien Komponisten in Wien zu sehr verknüpft war „mit dem Genre von Divertimento und Serenade, den Gattungen der Unterhaltungsmusik der Aristokratie“.

Viele der Werke sind daher nur schlecht überliefert, sei es in unvollständig bezeichneten Autographen oder wenig zuverlässigen Stimmen-Ausgaben – was in einer Gesamtausgabe zunächst einmal im bestmöglichen Text zu dokumentieren ist, in einer praktischen Ausgabe jedoch mitunter Erläuterungen verlangt. So fehlen in Beethovens kleinem Marsch WoO 29 für zwei Klarinetten, zwei Fagotte und zwei Hörner jegliche Angaben zu Dynamik und Artikulation, weil die Edition sich allein auf ein unbezeichnetes Partiturautograph stützen kann. Wo andere Ausgaben mutig eigene Vortragsangaben ergänzen würden, sind wir als Urtext-Verlag zur Texttreue verpflichtet. Um dem Musiker aber dennoch einen Anhaltspunkt dafür zu geben, wie Beethoven sich die Ausführung möglicherweise vorgestellt hat, drucken wir in den Bemerkungen zum Notentext eine von Beethoven stärker bezeichnete Klavierfassung des Marschs ab, die in der Gesamtausgabe lediglich erwähnt wird (HN 992).

Mitunter ist die späte Geburt der praktischen Ausgabe auch ein Segen: So konnte für die 2010 erschienene Stimmen-Ausgabe der Duos WoO 27 für Klarinette und Fagott eine Quelle beschafft werden, die für den 2007 erschienenen Gesamtausgabenband noch nicht verfügbar war. Dieser Druck erwies sich zwar als eine fehlerhafte frühere Auflage der als Hauptquelle genutzten revidierten Auflage, so dass sich an Quellenbewertung und Notentext nichts änderte. Aber er bot uns Anlass zu einigen Fußnoten im Notentext, die den Musiker auf abweichende Töne dieser fehlerhaften Frühauflage hinweisen. Denn diese wurden seit dem 19. Jahrhundert als vermeintlich korrekter Notentext in zahlreichen Ausgaben weiterverbreitet und sind den Musikern daher möglicherweise vertraut. So wird die praktische Ausgabe gewissermaßen zum Verteidiger der Gesamtausgabe und kann somit noch überzeugender für die Verbreitung des bestmöglichen Notentextes der Beethoven’schen Bläserkammermusik eintreten.

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