De­bus­sy am Kla­vier

Für Edi­to­ren von Ur­text-Aus­ga­ben tritt für den Zeit­raum ab etwa 1890 ein neues Me­di­um als mög­li­che Quel­le hinzu: his­to­ri­sche Auf­nah­men, sei es von eng mit dem Kom­po­nis­ten ver­bun­de­nen In­ter­pre­ten oder gar vom Kom­po­nis­ten selbst ge­spielt. Das gilt ins­be­son­de­re für Auf­nah­men der ei­ge­nen Kla­vier­wer­ke, waren doch die meis­ten Kom­po­nis­ten der Zeit auch gute Pia­nis­ten, die selbst in Kon­zer­ten auf­tra­ten. Peter Cossé hat im Zu­sam­men­hang mit De­bus­sys und Ra­vels Auf­nah­men ei­ge­ner Kla­vier­wer­ke das schö­ne Bon­mot vom „akus­ti­schen Blick unter den pia­nis­ti­schen Rock der Mu­sik­ge­schich­te“ hin­ter­las­sen.

Auf den ers­ten Blick stel­len sol­che his­to­ri­sche Auf­nah­men erst­ran­gi­ge Quel­len dar, denn wer könn­te die klang­li­che Rea­li­sie­rung des No­ten­texts bes­ser über­mit­teln als der Ur­he­ber selbst? Auf den zwei­ten Blick al­ler­dings be­dingt der zwei­fa­che Wech­sel des Me­di­ums (Klang­vor­stel­lung des Kom­po­nis­ten → Nie­der­schrift als No­ten­text → Rea­li­sie­rung der Klang­vor­stel­lung auf der Grund­la­ge des No­ten­texts) eine Fülle von Fra­gen und Pro­ble­men. Nur in sehr spe­zi­el­len Fäl­len, wenn die Auf­nah­me die ein­zi­ge Quel­le für eine Kom­po­si­ti­on oder Im­pro­vi­sa­ti­on dar­stellt (wie bei den Drei Im­pro­vi­sa­tio­nen von Isaac Albéniz, HN 953), ent­fällt die Dis­kus­si­on über die Be­deu­tung sol­cher Auf­nah­men für Ur­text-Aus­ga­ben.

Wel­te-Mi­gnon-Re­pro­duk­ti­ons­kla­vier

Wäh­rend die frü­hen akus­ti­schen Auf­nah­men (Pho­no­graph, Gram­mo­phon) sehr stark unter ihrer schlech­ten tech­ni­schen Qua­li­tät lei­den, haben die seit 1904 ent­wi­ckel­ten me­cha­ni­schen Re­pro­duk­ti­ons­ver­fah­ren (Wel­te-Mi­gnon, Duo-Art, Am­pi­co) den Vor­teil, dass sie bei der Wie­der­ga­be frei von stö­ren­den Ne­ben­ge­räu­schen sind und die je­wei­li­ge Ein­spie­lung recht genau wie­der­ge­ben. Die Über­tra­gung des Spiels auf einem ent­spre­chend tech­nisch prä­pa­rier­ten Kla­vier auf Loch­strei­fen, so­ge­nann­te No­ten­rol­len, die nach Be­lie­ben wie­der von sol­chen Re­pro­duk­ti­ons­kla­vie­ren ab­ge­spielt wer­den konn­ten, be­deu­te­te da­mals einen sen­sa­tio­nel­len Fort­schritt für die Wie­der­ga­be einer Ori­gi­nal­auf­nah­me. Denn wenn auch die Ge­samt­dau­er je nach Ein­stel­lung des Re­pro­duk­ti­ons­kla­viers leicht dif­fe­rie­ren konn­te, so war doch die au­then­ti­sche Wie­der­ga­be der Tem­po­wech­sel, der Dy­na­mik und der Pe­da­li­sie­rung ge­si­chert.

De­bus­sy hin­ter­ließ neben drei akus­ti­schen Auf­nah­men von Vo­kal­mu­sik (1904) ins­ge­samt 14 Ein­spie­lun­gen ei­ge­ner Kla­vier­wer­ke auf dem Re­pro­duk­ti­ons­kla­vier Mi­gnon der Firma Welte, die in sechs No­ten­rol­len er­hal­ten sind:

WM 2733: Child­ren’s Cor­ner (alle sechs Stü­cke der Suite);
WM 2734: D’un ca­hier d’es­quis­ses;
WM 2735: La Soirée dans Gre­na­de (aus Es­tam­pes);
WM 2736: La plus que lente;
WM 2738: Danseu­ses de Del­phes, La Cathédrale en­g­lou­tie, La Danse de Puck (aus Préludes I);
WM 2739: Le Vent dans la plai­ne, Min­st­rels (aus Préludes I).

Ein Brief des Kom­po­nis­ten an Edwin Welte vom 1. No­vem­ber 1913 drückt seine Be­geis­te­rung über das Er­geb­nis aus:

„Es ist un­mög­lich, grö­ße­re Per­fek­ti­on in der Wie­der­ga­be zu er­rei­chen als mit den Wel­te-Ap­pa­ra­ten. Was ich ge­hört habe, hat mich in Er­stau­nen ver­setzt, und ich schät­ze mich glück­lich, Ihnen dies in die­sen we­ni­gen Zei­len zu be­stä­ti­gen.“

Der ge­naue Zeit­punkt der Ein­spie­lun­gen ist nicht be­kannt, aber ver­mut­lich lag er nicht allzu weit vom Datum des Dank­brie­fes zu­rück, das heißt, stellt man die mehr­mo­na­ti­ge Pro­duk­ti­ons­zeit für die No­ten­rol­le in Rech­nung, etwa Ende 1912 oder An­fang 1913.

Wel­che Be­deu­tung kön­nen diese Auf­nah­men für Ur­text-Aus­ga­ben haben? Zur Be­ant­wor­tung lohnt es sich, den Blick von Henle aus auf an­de­re kri­ti­sche Aus­ga­ben aus­zu­wei­ten, deren Her­aus­ge­ber zu durch­aus un­ter­schied­li­chen Er­geb­nis­sen ge­lan­gen. De­bus­sys Ein­spie­lun­gen sind, da sind sich alle einig, von un­ter­schied­li­cher Qua­li­tät. Au­ßer­dem zogen bau­tech­ni­sche Sach­ver­hal­te des Re­pro­duk­ti­ons­kla­viers be­stimm­te Ein­bu­ßen nach sich: So waren nicht mehr als zwei ver­schie­de­ne Dy­na­mik­ab­stu­fun­gen zur glei­chen Zeit mög­lich, und der Am­bi­tus der Kla­via­tur reich­te im Bass nur bis C1 (so dass etwa beim Schluss­ak­kord von Danseu­ses de Del­phes das tiefe H2 fehlt).

Wie an­de­re Kom­po­nis­ten auch er­laub­te sich De­bus­sy zahl­rei­che Frei­hei­ten ge­gen­über dem No­ten­text: In La plus que lente feh­len die Takte 90–97, was in­so­fern merk­wür­dig ist, als er damit auf die Wie­der­ho­lung des dy­na­mi­schen Hö­he­punkts der Takte 86–89 in den Tak­ten 94–97 (in Ent­spre­chung zu T. 46 ff.) ver­zich­te­te. Bei Läu­fen än­der­te er ge­le­gent­lich die Noten oder aber auch, wie in Takt 43 in D’un ca­hier d’es­quis­ses, den Cha­rak­ter (Auf­wärts- statt Wel­len­be­we­gung, wobei das as1 statt b1 im zwei­ten Lauf wie auch das er­neu­te An­schla­gen des Bass­to­nes ver­mut­lich nicht be­ab­sich­tigt waren):

Nbsp. 1a: D’un ca­hier d’es­quis­se, Erst­aus­ga­be (Nach­druck) der Takte 40-44

 

Nbsp. 1b: D’un ca­hier d’es­quis­ses, Takt 43 gemäß De­bus­sys Auf­nah­me

Sol­che Be­fun­de schmä­lern die Nut­zung die­ser Auf­nah­men als Quel­le von vorn­her­ein. Es scheint, als seien die Re­sul­ta­te der be­son­de­ren Si­tua­ti­on der Ein­spie­lun­gen ge­schul­det. Dass De­bus­sy keine sei­ner Ab­wei­chun­gen spä­ter zur Kor­rek­tur des No­ten­texts vor­sah (es gibt zu­min­dest kei­ner­lei Do­ku­men­te zu die­ser An­nah­me), scheint diese Ein­schät­zung zu be­stä­ti­gen.

Dem­entspre­chend sieht Mi­cha­el Ste­ge­mann (Her­aus­ge­ber für Wie­ner Ur­text Edi­ti­on) die Be­deu­tung der Auf­nah­men eher für die In­ter­pre­ta­ti­on als für die Edi­ti­on. Sie do­ku­men­tier­ten ein „eher un­prä­ten­tiö­ses, alles an­de­re als vir­tuo­ses Kla­vier­spiel“, aber ver­mit­tel­ten „ein Bild jener viel be­schwo­re­nen ,clarté‘, die den Kern sei­ner Musik aus­macht: Wenig rech­tes Pedal, klar kon­tu­rier­te Li­ni­en, deut­li­che rhyth­mi­sche Ak­zen­te wi­der­spre­chen dem Kli­schee des ,Im­pres­sio­nis­mus‘“. Kon­se­quen­ter­wei­se wer­den die Auf­nah­men in sei­nen Aus­ga­ben nur in Zwei­fels­fäl­len zu Rate ge­zo­gen.

Auch für Roy Howat (Du­rand) stel­len die Auf­nah­men se­kun­dä­re Quel­len dar. Deren Ab­wei­chun­gen wer­den aber nicht aus­schließ­lich in Be­mer­kun­gen do­ku­men­tiert, son­dern kön­nen ge­le­gent­lich auch in den No­ten­text selbst ein­flie­ßen, wie ins­be­son­de­re der Fall von La Cathédrale en­g­lou­tie zeigt. De­bus­sys Me­trums­vor­ga­be 6/4 = 3/2 zu Be­ginn des Stücks be­zieht sich au­gen­schein­lich auf den mehr­fa­chen Wech­sel der Takt­art und dem­entspre­chend der Zähl­zei­ten: Be­ginn in Vier­teln, ab Takt 7 in Hal­ben, ab Takt 13 wie­der in Vier­teln usw. In sei­ner Auf­nah­me die­ses Préludes spielt De­bus­sy ab Takt 7 (und in den ana­lo­gen Stel­len) die Hal­ben in etwa dem­sel­ben Tempo wie vor­her die Vier­tel. Der Wech­sel des Me­trums führt also hier zu einem Tem­po­wech­sel, der so nicht in den schrift­li­chen Quel­len an­ge­ge­ben ist.

Nbsp. 2a: La Cathédrale en­g­lou­tie, Erst­aus­ga­be Takte 1–12

Mit Bezug auf die Ein­spie­lung er­gänzt Howat zu Takt 7 [Halbe = Vier­tel] und zu Takt 13 [Vier­tel = Halbe] sowie ent­spre­chend an den ana­lo­gen Stel­len. Aber ist es tat­säch­lich vor­stell­bar, dass De­bus­sy, der sol­che Wer­tere­la­tio­nen öf­ters in sei­nen Par­ti­tu­ren no­tier­te, hier diese Kenn­zeich­nun­gen schlicht­weg ver­ges­sen hatte?

Hier äu­ßert Ernst-Gün­ter Hei­nemann (Henle) er­heb­li­che Zwei­fel. Bei der Frage, wel­chen Quel­len­wert De­bus­sys Auf­nah­men für seine Hen­le-Aus­ga­ben be­sit­zen, be­zieht er eine klare Stel­lung: Wegen Tem­po­f­ra­gen, wie im ge­zeig­ten Bei­spiel, seien sie schon wich­tig, aber ins­ge­samt hät­ten sie nicht den Wert der no­tier­ten Quel­len (also den von Au­to­gra­phen oder Druck­aus­ga­ben), seien daher eher se­kun­där. Dem­entspre­chend greift er auch hier nicht in den No­ten­text ein, son­dern weist le­dig­lich in einer Fuß­no­te auf De­bus­sys Tem­po­nah­me hin (aus Prélude I, HN 383):

Nbsp. 2b: La Cathédrale en­g­lou­tie, Fuß­no­te zu T. 7 in HN 383

Eine ähn­li­che Lö­sung mit Fuß­no­te ver­tritt Tho­mas Ka­bisch (Bä­ren­rei­ter). Er geht davon aus, dass eine „äu­ßer­lich gleich­för­mi­ge Klang­be­we­gung durch Wech­sel der Zähl­zeit in­ner­lich mo­di­fi­ziert“ wird, das heißt, sich die Tem­po­be­schleu­ni­gung aus der Struk­tur der Musik und der Iden­ti­tät ihrer Kern­fi­gur er­gibt.

Im­mer­hin, so er­gänzt Hei­nemann, hel­fen die Auf­nah­men in ein­zel­nen Fäl­len, strit­ti­ge Noten oder No­ten­wer­te zu klä­ren. Ein Bei­spiel bie­tet hier er­neut D’un ca­hier d’es­quis­se: Wie in No­ten­bei­spiel 1a er­sicht­lich, no­tier­te De­bus­sy kein Vor­zei­chen vor der tiefs­ten Note im Ak­kord Takt 42. Die Auf­nah­me des Kom­po­nis­ten be­stä­tigt, dass sie B1 (nicht H1, wie der vor­an­ge­hen­de Takt sug­ge­rie­ren könn­te) lau­ten soll. Zu­gleich kor­ri­giert De­bus­sys Spiel in Takt 43 den in der Erst­aus­ga­be fal­schen No­ten­wert der über­ge­bun­de­ne Note d1 (viert­letz­te Note vor der Fer­ma­te), näm­lich eine punk­tier­te Ach­tel statt einer punk­tier­ten Vier­tel.

Die Wel­te-Mi­gnon-Ein­spie­lun­gen sind mehr­fach auf CD neu ver­öf­fent­licht wor­den, aber auch via youtube zu­gäng­lich.

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