Wolf­gang Ama­de­us Mo­zart (1756–1791)

Dass Mo­zart, so­fern er sorg­fäl­tig schreibt, gra­phisch zwi­schen dem Punkt und dem Strich un­ter­schei­det, soll­te für jeden, der seine Hand­schrift kennt, un­strit­tig sein. Wel­che auf­füh­rungs­prak­ti­sche Be­deu­tung diese gra­phi­sche Un­ter­schei­dung zwi­schen Punkt und Strich al­ler­dings haben mag oder nicht, dar­über soll an die­ser Stel­le nicht ge­strit­ten wer­den. Heute will ich eine äu­ßerst merk­wür­di­ge „Strich“-No­ta­ti­on Mo­zarts prä­sen­tie­ren.

Es geht um die (zwei­ma­li­ge) Te­nu­to-Stel­le im Fi­na­le des Streich­quar­tetts Es-dur KV 428 (Takte 104—109, 251—256 alle Stim­men). Mo­zart kom­bi­niert hier drei­er­lei: den Stac­ca­to-Strich mit dem Fer­ma­te-Zei­chen mit der „te­nu­to“-An­ga­be. Eine No­ta­ti­on, die mir bis­lang noch in kei­nem an­de­ren Werk Mo­zarts und bei kei­nem an­de­ren Kom­po­nis­ten un­ter­ge­kom­men ist:

Au­to­graph, T. 104–109 des Fi­na­les

Nicht etwa, dass Mo­zart nicht wüss­te, wie man eine or­dent­li­che Fer­ma­te no­tie­ren müsse:

Er schreibt die üb­li­che Fer­ma­te (hier Ge­ne­ral­pau­se, T. 139) immer re­gel­kon­form, also als einen über oder unter einen Punkt (!) no­tier­ten Halb­kreis, genau so, wie es sein Vater in sei­ner Vio­lin­schu­le von 1756 wie folgt be­schreibt: „Wenn ein hal­ber Cir­kel über einer Note al­lein steht die über sich einen Punkt [!] hat: so ist es ein Zei­chen des Aus­hal­tens [es folgt No­ten­bei­spiel]. Ein sol­ches Aus­hal­ten wird zwar nach Gut­dün­ken ge­macht: doch muß es nicht zu kurz und nicht zu lang, son­dern mit guter Be­urt­hei­lung ge­sche­hen. Alle die Mit­spie­len­den müs­sen ein­an­der be­ob­ach­ten …“ (Vio­lin­schu­le, 1/iii/§19). Hier, im Fi­na­le des Es-dur-Quar­tetts KV 428, will er aber zwei­fel­los einen Strich statt des Punk­tes.

Warum? Was be­deu­tet nun auf­füh­rungs­prak­tisch der Fer­ma­te-Halb­kreis zu­sam­men mit einem Strich (statt Punkt)? Noch dazu mit dem Hin­weis „te­nu­to“ (= ge­hal­ten), den Mo­zart al­ler­dings wohl im Sinne eine im­pli­zi­ten „si­mi­le“ nur zur je­weils ers­ten zu hal­ten­den Note (in Vl 1 auch noch zur 2. Note) schreibt. Meh­re­re Deu­tun­gen bie­ten sich mei­nes Er­ach­tens an – ich kenne die Lö­sung nicht, habe aber eine Idee. Eines ist klar: Es kann sich NICHT um einen Kür­zungs­strich, wie üb­lich beim so­ge­nann­ten Stac­ca­to-Strich, han­deln, denn das stün­de im Wi­der­spruch zu „te­nu­to“ und zum Fer­ma­ten­kreis. Es könn­te sich also um einen Ak­zent­strich (der mo­der­ne „Keil“?) han­deln, also jede Vier­tel­no­te deut­lich mar­kiert spie­len und etwas aus­hal­ten. Die­ser Deu­tung steht wo­mög­lich das pia­no-„p“ ent­ge­gen. Und schließ­lich (= meine Fa­vo­rit-Er­klä­rung): Es könn­te sich um eine tat­säch­li­che STRICH-An­ga­be han­deln: jede Vier­tel­no­te ist deut­lich ab­zu­set­zen, also mit wech­seln­dem Bo­gen­strich (Ab / Auf / Ab etc.) und ab­ge­setzt (je­weils fol­gen­de Pause!) zu spie­len. Diese In­ter­pre­ta­ti­on würde auch zur ge­ne­rel­len Be­deu­tung des Mo­zart­schen Strich-Zei­chens pas­sen, so wie ich den Strich – im Ge­gen­satz zum schlich­ten Punkt – ge­ne­rell in­ter­pre­tie­re.

Was mir je­den­falls bei vie­len Auf­nah­men und Auf­füh­run­gen die­ses „Al­le­gro vi­va­ce“ auf­fällt: die Grund­be­deu­tung des „Fer­ma­te“ (An­hal­ten) wird meist zu wenig be­ach­tet; es wird also in der Regel das ra­sche Grund­tem­po viel zu wenig aus­ge­setzt, ob­wohl doch am Fer­ma­te-Zei­chen und am „te­nu­to“ als sol­chem kein Zwei­fel be­ste­hen dürf­te, oder?

Hier eine schö­ne Auf­nah­me des Emer­son String Quar­tets. Die be­spro­che­ne Stel­le ist beim Time-Code 25:54 ff. zu fin­den.

Aber diese Miss­ach­tung der Mu­si­ker der Be­son­der­heit die­ser Stel­le(n) ge­gen­über – näm­lich als kurz­fris­ti­ger Ru­he­pol im Kon­text gro­ßer Eile, Er­re­gung und Hek­tik – mag auch der glät­ten­den Wie­der­ga­be die­ser bei­den Stel­len in mo­der­nen No­ten­aus­ga­ben ge­schul­det sein. Denn ge­nau­so wie schon die Erst­aus­ga­be nicht wuss­te, wie Mo­zarts in­di­vi­du­el­le No­ta­ti­on zu ste­chen sei (man sieht: keine Fer­ma­te, kein Strich, bloß das an­fäng­li­che „ten“):

No­ta­ti­on in der Erst­aus­ga­be

so ver­fäl­schen mei­nes Er­ach­tens auch mo­der­ne Edi­tio­nen Mo­zarts In­ten­ti­on, indem sie aus­schließ­lich dem Text der Erst­aus­ga­be fol­gen und alle Fer­ma­ten samt Strich ein­fach weg­las­sen (und die „si­mi­le“-te­nu­tos er­gän­zen):

No­ta­ti­on in der Neuen Mo­zart-Aus­ga­be

Ich bin schon jetzt ge­spannt, wie meine Freun­de vom Ar­mi­da-Quar­tett das spie­len wer­den, mit denen ich die Stel­le als Vor­be­rei­tung der Ur­text­aus­ga­be und zu ihrer CD-Auf­nah­me dis­ku­tiert habe. Meine Ur­text­aus­ga­be (HN 7122) er­scheint An­fang 2019, und sie wird Mo­zarts ei­gen­ar­ti­ge, span­nen­de No­ta­ti­on erst­mals „ori­gi­nal“ brin­gen.

Wie­der­ga­be aller Zei­chen in der neuen Hen­le-Aus­ga­be

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4 Antworten auf »Zu einer unerklärlichen (?) Fermaten-Notation in Mozarts Streichquartett KV 428«

  1. Wieland Hartwich sagt:

    Bei Siegbert Rampe: Mozarts Claviermusik. Klangwelt und Aufführungspraxis,(Bärenreiter, 1995) finde ich im Abschnitt ‘staccato’ folgende interessante Ausführung : „Der Keil/Strich dient als Artikulationssymbol für ‘scharf abgestossen[e] ‘ Töne (Knecht ca 1800, S. 60) und/oder als Akzentzeichen, tritt er doch nicht selten über längeren und sogar mit Haltebogen verbundenen Notenwerten auf, wo er nur sehr begrenzt die Artikulation bezeichnen kann. Darüber hinaus lassen Knecht und andere Autoren jener Zeit keinen Zweifel daran, ‘dass die Noten’ durch den Keil/Strich auch ‘etwas lang und scharf abgestossen’ werden können (gemeint sind eine längere Artikulation und ein stärkerer Anschlag als beim Punkt). “ (Seite 171)

    • Sehr geehrter Hartwich,
      vielen Dank für diesen Hinweis auf das ausgezeichnete Mozart-Buch von Rampe, das ich oft konsultiere. Allein, diesen von Ihnen zitierten Interpretationsabschnitt teile ich für Mozart ganz und gar nicht. Mozart hat nicht die Theoriebücher seiner Zeit studiert, um das Notenschreiben zu lernen, sondern (fast alles) bei und von seinem Vater gelernt. „Knecht ca. 1800“ kannte weder er (noch ich).

  2. Thomas Haberlah sagt:

    Also, mein erster (unbeeinflusster) Blick auf die Faksimile Abbildung hier ergab: ganz normale Fermatenpunkte. Gelegentlich werden Striche draus, was normal ist bei Notationen mittels Gänsefeder. Sieht man bei Mozart Autographen häufig, besonders wenn er viele Punkte schreiben musste. Die Abnutzung der Feder führte auch öfters ungewollt zu Strichen. Punkte sind generell schwierig mit Federschrift.
    Vermutlich war Mozart klar, dass normalerweise niemand auf die Idee käme, ausgerechnet an dieser Stelle Staccato Striche zu erwarten, daher glaubte er wohl, sich nicht so viel Mühe machen müssen mit den Fermatenpunkten.
    Mit den Erbsenzählern des 21. Jahrhunderts hatte er leider nicht gerechnet…
    ;-)

  3. Boris Brinkmann sagt:

    Das ist ja wirklich über die Maßen interessant! Das war mir auch gar nicht bewusst. Natürlich habe ich auch keine Lösung, möchte aber einen Aspekt modifizieren, nämlich Ihre Ausführungen zu “tenuto”. In Zeiten, da die normale Ausführung eines Einzeltones noch die von Mozarts Papa beschriebene als verklingendem “Glockenton” war, womöglich mit impliziter Kürzung, fordert “tenuto” ja häufig nur das – gewiss als unmusikalisch empfundene – Aushalten des vollen Notenwertes, so wie es moderne, “nicht informierte” Musiker ohnehin tun, nicht aber über den Notenwert hinaus. So etwa in der Einleitung zum 1. Satz der 1. Beethoven. Ich ediere im Steiermärkischen Landesarchiv Werke des Spohr-Zeitgenossen Eduard von Lannoy aus den Autografen und habe es da unzählige Male in dem Sinne gefunden. (So glaube ich persönlich auch, dass das rätselhafte “tenu” über dem Schlussakkord der Symphonie fantastique, einer Partitur, die durchaus zahlreiche Fermaten enthält, u. a. zwei auf Satzschlüssen, in krassem Widerspruch steht zu unserem heutigem Umgang mit der Stelle als triumphaler Schlusspose; vielmehr frommt dem grotesken Satz eine groteske Fratze, wie eine herausgestreckte Zunge – der im rasenden 6/8 “in 1” exakt sechs Achtel ausgehaltene Akkord. Hier könnte “tenu” sogar umgekehrt “Notenwert genau einhalten und bitte nicht länger” bedeuten.)
    Viel bringen für die Mozart-Stelle tut’s nicht, nur, dass “ten.” allein noch keine Verlangsamung des Tempos bedingen würde.
    MfG, Boris Brinkmann, Graz.

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