Jakob Dont (1815–1888)

Wohl jeder Geiger kennt sie aus dem Unterricht: Die 24 Études et Caprices op. 35 von Jakob Dont (1815–1888) sind bis heute unersetzlicher Bestandteil des Lehrplans. Das liegt sicher daran, dass es Dont auf kongeniale Weise gelang, das gezielte Trainieren bestimmter technischer Herausforderungen mit einer ansprechenden und melodiösen musikalischen Gestaltung zu verbinden. Dutzende verschiedener Ausgaben sind heute auf dem Markt, die sich aber alle – zum Teil erheblich – vonein­an­der unterscheiden. Was ist denn nun der „echte“ Dont?

Diese Frage stellte ich mir auch, als ich mit den vorbereitenden Recherchen zu unserer Urtext-Ausgabe der Etüden Opus 35 begann, die nun vor wenigen Wochen erschienen ist (HN 1175). Diese Ausgabe eröffnet eine neue Reihe von Henle-Editionen der wichtigsten Etüdenwerke für Violine: In Kürze erscheinen ebenfalls Donts 24 Vorübungen zu den Etüden von Kreutzer und Rode op. 37 (HN 1176) sowie die 42 Etüden von Rodolphe Kreutzer (HN 1177) und die 24 Caprices von Pierre Rode (HN 1186)

Natürlich dürfen die Musiker hier die gleiche Akribie und Quellentreue wie in jeder Henle-Ausgabe erwarten, auch wenn es sich „nur“ um Etüden handelt. Doch was heißt hier „nur“…! Bei der Vorbereitung zeigte sich schnell, dass gerade diese Etüden-Bände in höchstem Maße einer kritischen Revision bedürfen, da sie seit über einem Jahrhundert von einer Schicht von Herausgeberzusätzen überwuchert wurden. Viele namhafte Geiger und Pädagogen haben im 20. Jahrhundert Donts Etüden in einer eigenen Einrichtung herausgegeben und dabei – etwas zugespitzt gesagt – nahezu alle Parameter bis auf Tonhöhe und Rhythmus geändert… (Nicht viel besser erging es übrigens den Kreutzer-Etüden, siehe dazu diesen aufschlussreichen Blog-Beitrag meines Kollegen Norbert Gertsch.)

Der Urtext-Gedanke ist eben nicht nur „großen Meistern“ wie Mozart und Beethoven vorbehalten, sondern trägt auch bei weniger prominenter Literatur Früchte. Nach über hundert Jahren sind mit unserer Edition wieder die authentischen Fingersätze, Strichbezeichnungen und Phrasierungsangaben Jakob Donts zugänglich. Und ver­mutlich wird in unserer Ausgabe auch erstmals die ver­worrene Druckgeschichte der Etüden im 19. Jahrhundert umfassend dargestellt, die sich über 40 Jahre erstreckt – Dont hat nahezu „von der Wiege bis zur Bahre“ an seinen Übungswerken gearbeitet.

Die 24 Études et Caprices erschienen nicht auf einen Schlag, sondern wurden im Laufe der 1840er Jahre komponiert und in fünf einzelnen Heften veröffentlicht:

Titel erschienen Verlag
Cinq Caprices op. 18 1840 Mollo, Wien
Trois Caprices op. 20 1842 Mollo&Witzendorf, Wien
Quatre Études op. 30 1846 Witzendorf, Wien
Cinq Études op. 33 ca. 1848 Witzendorf, Wien
[7] Études et Caprices op. 35 1849 Witzendorf, Wien

Gleichzeitig mit Vollendung des letzten Einzelheftes op. 35 erschien 1849 auch der Sammelband mit sämtlichen 24 Études et Caprices unter der gleichen Opusnummer 35. Damit war die Etüdensammlung für Dont aber keineswegs abgeschlossen: zwischen 1849 und 1880 lassen sich mindestens fünf inhaltlich voneinander abweichende Ausgaben nachweisen:

Études et Caprices 1849 Witzendorf, Wien
Études et Caprices. Nouvelle Édition ca. 1854 Witzendorf, Wien
Études et Caprices. Nouvelle Édition [veränderter Nachdruck] 1860er Jahre Witzendorf, Wien
Gradus ad Parnassum – Études et Caprices 1875 Leuckart, Leipzig
Gradus ad Parnassum – Études et Caprices. Neue, verbesserte Ausgabe 1880 Leuckart, Leipzig

Da wir sämtliche dieser (heute extrem raren) Drucke in verschiedenen Bibliotheken weltweit aufspüren und Kopien erhalten konnten, war es möglich, alle Änderungsschritte von Ausgabe zu Ausgabe nachzuvollziehen. Und die Unterschiede im Notentext sind zum Teil immens: In der Ausgabe von 1849 befinden sich noch 5 Stücke, die in der abschließenden Ausgabe von 1880 gar nicht mehr enthalten sind, sondern von Dont durch gänzlich neukomponierte Etüden ersetzt wurden (eine ausführliche Übersicht hierzu findet sich im Bemerkungsteil zu unserer Edition, der hier einsehbar ist). Außerdem strich oder änderte Dont in vielen Etüden ganze Taktpassagen, fügte Fingersätze hinzu, änderte die Artikulation, ergänzte Dynamik und Tempoangaben u. v. m. Die Ausgabe von 1875 erweiterte er sogar um Angaben zur Bogeneinteilung (Spitze/Mitte/Frosch/ganzer Bogen), die er in der folgenden Ausgabe aber wieder entfernte.

Einen Eindruck von der Vielzahl dieser Eingriffe kann vielleicht folgendes Beispiel aus der 24. Etüde (Fantasia es-moll) vermitteln, das dieselbe Stelle in 6 verschiedenen Revisions-Stadien wiedergibt. Gehen Sie doch einmal auf Spurensuche (zum Vergrößern Bilder anklicken).

Ausgabe von 1840

Ausgabe von 1849

Ausgabe von 1854

Ausgabe von 1860

Ausgabe von 1875

Ausgabe von 1880

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Rahmen unserer praktischen Urtext-Ausgabe können wir natürlich nicht im Detail auf diese zahllosen Differenzen eingehen; dies wäre vielleicht einmal ein eigenes Thema für eine Dissertation… Aber der Vergleich zeigt, wie wichtig es ist, für die Edition die richtige Ausgabe in der Fassung letzter Hand als Hauptquelle zugrundezulegen und nicht wahllos die erstbeste „alte“ Ausgabe, die man in einer Bibliothek findet, zu verwenden.

Abschließend sei noch auf eine weitere Besonderheit unserer Violinetüden-Ausgaben hingewiesen: Jeder Band wird von einem namhaften Violinpädagogen begleitet, der die originalen Strichbezeichungen und Fingersätze prüft und ggf. um alternative Vorschläge ergänzt. Für Donts Opus 35 konnten wir dafür Antje Weithaas gewinnen. Um die Bezeichnungen von Dont und Weithaas nicht zu vermischen, sind letztere zur Unter­scheidung in Grau gedruckt – sehr gut lesbar, aber dennoch deutlich vom Urtext abgesetzt:

Wir hoffen, dass wir so allen angehenden Violinvirtuosen eine optimale Ausgabe an die Hand geben und selbst das manchmal trockene Üben von Etüden eine wahre Freude sein wird – Dont worry, be happy!

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