In den bereits über 70 Jahren seit Gründung unseres Verlagshauses haben sich immer wieder wunderbare freundschaftliche Verbindungen zu Künstler*innen ersten Ranges ergeben, die sich häufig auch sehr fruchtbar auf unsere Editionsarbeit auswirken. Heute möchte ich dafür ein aktuelles Beispiel bringen, das uns auf die Spur einer Neubewertung unserer Edition von Schuberts Wanderer-Fantasie führte.

Kürzlich hörten wir von dem wunderbaren Pianisten und Mozarteums-Professor Claudius Tanski – schon seit langem Freund des Verlags –, dass er auf YouTube seine 1988 veröffentlichte Einspielung dieses Meisterwerks hochgeladen hatte und dazu den Notentext unserer Urtextausgabe von 1974 mitlaufen ließ. Eine nützliche Sache für den Hörer, der gleichzeitig die Ausgabe mitverfolgen kann.

Claudius Tanskis Einspielung auf YouTube

Als Claudius Tanski uns von seinem Youtube-Projekt erzählte, erwähnte er auch, dass er auf der letzten Seite der Noten eine geschickte Handverteilungslösung für eine sehr schwierige Arpeggio-Stelle gefunden hatte, die er gleich im Youtube-Video mit in die Noten eingezeichnet hatte. Das rief mich auf den Plan: Warum nicht Prof. Tanski bitten, uns für unsere Henle Library App seine kompletten Fingersätze zur Fantasie zur Verfügung zu stellen. Sicher gab es noch mehr raffinierte Lösungen, die es mitzuteilen lohnt?

Die letzte Seite aus Claudius Tanskis YouTube-Video

Claudius Tanski

Kaum hatte er sich an die Arbeit gemacht, kamen natürlich – wir kennen es von ihm und vielen anderen nur so – umgehend auch Fragen zu unserem Notentext auf. Prof. Tanski hatte das Werk nach der Ausgabe der Universal Edition von Paul Badura-Skoda von 1965 einstudiert, die laut Titel die „Erste Ausgabe nach dem Autograph“ war, also zu der Zeit eine kleine Sensation darstellte. Denn tatsächlich war es erst kurz zuvor in den USA wieder aufgetaucht und Badura-Skoda hatte Zugang zu dieser Quelle erhalten. In unserer Ausgabe, die 1974 erschien, herausgegeben vom damaligen Henle-Lektor Ernst Herttrich, heißt es im Vorwort ebenfalls, dass das Autograph die Hauptquelle der Edition war. Doch warum ist der Notentext an einigen Stellen nicht deckungsgleich, sondern präsentiert sogar gelegentlich andere Noten?

Nun, der Antwort kommt man nur näher, wenn man versucht, sich über den Wert der zu Schuberts Lebzeiten 1823 erschienenen Erstausgabe Klarheit zu verschaffen. Beginnen wir zunächst mit den Indizien im Autograph (von dem wir hier leider keine Reproduktionen bringen können, da es sich zurzeit in Privatbesitz befindet). Es besteht kein Zweifel, dass es dem Originalverleger Cappi & Diabelli als Stichvorlage zur Verfügung stand, denn es enthält die leicht identifizierbaren Eintragungen zur Sticheinteilung und auf der Titelseite mehrere Eintragungen von fremder Hand, etwa „21 oder 22 Platten quer“, die nur vom Verlag stammen können. An zahlreichen Stellen wurde mit Bleistift in den von Schubert mit Tinte niedergeschriebenen Notentext eingegriffen, um etwa schlecht lesbare Stellen zu verdeutlichen. Anton Diabelli, selbst profilierter Komponist, übernahm offensichtlich für den Verlag eine eigene Durchsicht des recht flüchtig notierten, mit Korrekturen und Streichungen übersäten Manuskriptes, denn er strich eine ganze Seite und fügte eine von ihm neu notierte Seite hinzu. Auch wenn an verschiedenen Stellen in der Literatur festgestellt wird, dass wir aus diesem Befund schließen können, dass Schubert selbst in den Druckprozess eingebunden war und Korrektur las, so scheint es dafür keinen anderen direkten Beweis als die hier dargestellte Sachlage hinsichtlich des Zustands des Autographs zu geben. Es liegt nahe, dass Schubert allein aufgrund der örtlichen Nähe in Wien involviert war. Und einige, weiter unten behandelte Änderungen im Notentext des Drucks deuten auf die eingreifende Hand des Komponisten hin. Unverkennbar ist allerdings auch, dass der Stecher zahlreiche Fehler in den Notentext brachte, die Schubert – sollte er tatsächlich Korrektur gelesen haben – schlichtweg übersah.

Titelseite der Erstausgabe

Nach meiner Meinung lässt der Befund der beiden Quellen nur einen Schluss zu: Wenn man Schuberts Hand hinter einigen Abweichungen in der Erstausgabe vermutet, so stellt dieser Druck zumindest die intendierte Fassung letzter Hand dieses Werks dar. Natürlich sind sämtliche Abweichungen zwischen den Quellen zu bewerten und zu dokumentieren und es ist schließlich zu entscheiden, welcher Hauptnotentext in einer kritischen Ausgabe niedergelegt wird. Interessant ist es nun zu sehen, wie unterschiedlich die neueren Ausgaben mit diesem Sachverhalt umgingen. Vor Badura-Skodas Ausgabe stand das Autograph nicht zur Verfügung, man musste also letztlich zwangsweise nach dem Erstdruck edieren und den musikalischen Verstand einsetzen, um Unstimmigkeiten und Fehlern auf die Spur zu kommen.

Badura-Skoda selbst schreibt zu seiner Ausgabe: „Die vorliegende Ausgabe gibt dieses Werk erstmalig nach dem Autograph wieder […]. Außerdem wurde der 1823 erschienene Erstdruck […] zum Vergleich herangezogen.“ Das Autograph war also Hauptquelle, der Erstdruck Nebenquelle. Umso erstaunlicher ist es nun allerdings, dass Badura-Skoda an manchen Stellen stillschweigend (!) dennoch die Lesarten der Erstausgabe übernimmt. Für ihn als profunden Musiker und Schubert-Kenner waren diese Entscheidungen so offensichtlich, dass sich seines Erachtens ein Kommentar erübrigte. Die wichtigsten Abweichungen zwischen den Quellen verzeichnete er allerdings – und das ist hervorragend – in Fußnoten im Notentext. Er ließ also letztlich offen, welchen Stellenwert die Erstausgabe tatsächlich hatte.

Eine von Paul Badura-Skoda kommentierte Stelle

Ernst Herttrich, der Herausgeber unserer Urtextausgabe, der laut seinem kurzen Vorwort das Autograph zur „Hauptquelle“ machte und die Erstausgabe „nur in Zweifelsfällen zu Rate“ zog, ging offensichtlich zu radikal vor. Zwar vermeidet er sehr strikt eine Quellenvermischung im Notentext und richtet sich streng nach dem Text des Autographs – womit er meines Erachtens die Quellenbewertung auf den Kopf stellte –, aber er geht nur in einer einzigen Fußnote auf die augenfälligen Änderungen im Erstdruck ein (T. 142). Gleichwohl bietet er immerhin in den Bemerkungen am Ende der Ausgabe für die Studierwilligen unter den Pianisten eine Liste der auffälligen Abweichungen im Druck, ohne diese weiter zu bewerten.

Eine von Ernst Herttrich kommentierte Stelle

1984 schließlich, zehn Jahre nach der Veröffentlichung unserer Urtextausgabe, erschien der von Christa Landon und Walther Dürr vorgelegte Band der Schubert Gesamtausgabe und hier nun findet sich eine Quellenbewertung, die die Erstausgabe gebührend in die Edition mit einbezieht: „Über die vom Komponisten beabsichtigte Lesart konnte jedoch kaum ein Zweifel aufkommen, einige wenige Stellen ausgenommen, bei denen die Erstausgabe vom Autograph abweicht, bei denen sich also die Frage stellt, ob die Varianten auf Änderungen Schuberts in den Korrekturabzügen der Erstausgabe oder auf ein Versehen des Stechers zurückgehen.“

Schauen wir uns zwei der fraglichen Stellen an, auf die uns natürlich auch Claudius Tanski aufmerksam machte:

Badura-Skodas Edition des Taktes 102

Takt 102: Im Autograph ist der letzte Akkord der linken Hand als E-dur-Akkord in Grundstellung notiert, in der Erstausgabe dagegen mit der Sept d als Bassnote (d/gis/h). Der Reiz der Lesart im Druck liegt in der Tatsache, dass die Leitton-Sept im nächsten Takt zur Terz c von a-moll aufgelöst wird. Die Lesart des Autographs wirkt dagegen „schwächer“. Liegt nun hier ein Stichfehler vor oder hat Schubert diesen Akkord für den Druck geändert? Wir werden es vermutlich nie wissen. Landon/Dürr gehen von einem Stichfehler aus und notieren die Lesart des Autographs. Herttrich notiert ebenfalls die Lösung des Autographs und weist in den Bemerkungen auf die Lesart im Druck hin, ohne diese weiter zu bewerten. Badura-Skoda bringt den Akkord sogar in einem ossia-System im Notentext samt Fußnote, da er sich wohl der Attraktivität der Lesart im Druck durchaus bewusst war.

Takt 152 aus unserer Ausgabe mit der unangenehmen Oktave g1/g2

Takt 152: Im Autograph notierte Schubert zunächst die 16tel-Passage der rechten Hand in Oktaven g1/g2 etc., strich aber anschließend die unteren Noten, da die Stelle im schnellen Tempo kaum auszuführen sein würde. Nicht durchgestrichen ist allerdings das allererste g1, vermutlich um eine regelgerechte Auflösung des fis1-Leittons im Takt zuvor zu bewerkstelligen. Damit bleibt die Stelle in der Ausführung weiterhin unangenehm. In der Erstausgabe ist auch dieses g1 nicht mehr vorhanden, vermutlich weil Schubert (oder doch vielleicht Diabelli?) die technische Schwierigkeit ausmerzen wollte. Badura-Skoda und Landon/Dürr übernehmen hier die Lesart der Erstausgabe, ohne in irgendeiner Weise auf die Lesart des Autographs zu sprechen zu kommen. Herttrich übernimmt in seiner strengen Vorgehensweise die Lesart des Autographs, verweist immerhin in den Bemerkungen aber auf die Abweichung im Druck.

Fazit aus alldem: Eine Revision unsere Urtextausgabe wird sich lohnen! Danke, Claudius Tanski, für den inspirierenden Austausch!

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