George Gershwin wurde viel zu früh, mit 38 Jahren, aus dem Leben gerissen und wir können heute nur ahnen, welche Meisterwerke er neben seinen vielen Musicals auch der klassischen Musikwelt bis ins hohe Alter hinterlassen hätte. Am Broadway hatte er bereits alles erreicht, was man sich wünschen kann. Doch seine Reise in die Sphären der Carnegie Hall hatte der 26jährige erst 1924 mit der Rhapsody in Blue begonnen. 12 Jahre blieben ihm, um einige der bedeutendsten Orchester- und Opernwerke der amerikanischen Geschichte zu schreiben. Einige wenige Klavierwerke sollten entstehen und ein einziges Kammermusikwerk, der Streichquartettsatz Lullaby (HN 1224).

Gershwin selbst kümmerte sich zu Lebzeiten nicht um eine Veröffentlichung des kleinen Stücks. Erst im April 1968 erschien die Erstausgabe als Taschenpartitur bei New World Music Corp. in New York. Darin findet sich ein aufschlussreiches Vorwort aus der Feder des Bruders Ira Gershwin (1896–1983), das die wenigen wesentlichen Fakten zur Entstehung des Lullaby liefert. Es wird unverändert auch heute noch in einem Nachdruck samt Stimmenmaterial bei Alfred Publishing Co., Van Nuys (Kalifornien), wiedergegeben.

Foto: wikimedia commons

Gershwin schrieb dieses Stück vermutlich als eine Kompositions­- und Instrumentierungsübung im Rahmen seines Unterrichts bei Edward Kilenyi, dem ungarischen Komponisten und Violinisten des Waldorf­-Astoria Orchestra. Sein Bruder Ira nennt 1919/20 als den Zeitrahmen des Entstehens, die Jahre also, in denen George nachweislich intensiv das Komponieren im „klassischen Stil“ studierte. „Als Quartett wurde es in den nächsten Monaten mehrmals im privaten Rahmen bei seinen vielen Musikfreunden gespielt, bevor – manchmal auch nachdem – man sich der seriöseren Beschäftigung mit klassischen Quartetten und Quintetten zuwandte“, weiß Ira Gershwin zu berichten.

Offenbleiben muss, ob Gershwin das Hauptthema des Satzes zunächst als Melodie in einem Song für Klavier solo verwendete. Überliefert ist ein autographes Fragment für dieses Instrument, das aus den Takten 9–36 der Streichquartett­-Fassung besteht, jedoch nicht genau zu datieren ist. Es macht eher den Eindruck einer abgebrochenen Reinschrift mit späteren Korrekturen, weniger den einer ersten Niederschrift des Stücks. So könnte diese Fassung auch deutlich später als diejenige für Streichquartett entstanden sein. Letztere liegt uns bedauerlicherweise nicht als Autograph vor, sondern lediglich in einer Stimmenabschrift durch einen unbekannten Kopisten.

Gershwin fand offensichtlich weiterhin Gefallen an der eingängigen Melodie, denn wenige Jahre später verarbeitete er sie erneut. Für die Broadway Revue George White’s Scandals of 1922, bei der Gershwin für die Musik verantwortlich war, komponierte er einen kurzen Operneinakter Blue Monday Blues, in dem er Lullaby zitiert und als musikalische Inspirationsquelle nutzt – am offensichtlichsten in der Arie „Has Anyone Seen My Joe“. Ira Gershwin sieht in dieser Übernahme des Materials aus dem Streichquartettsatz den Grund dafür, dass Lullaby in seiner Originalfassung später beim Komponisten in Vergessenheit geriet, „ich wüsste nicht, dass er es jemals wieder erwähnt hätte“.

Es ist wohl Harold Spivacke, dem damaligen Leiter der Musikabteilung der Library of Congress zu verdanken, dass dieses einzige erhaltene Kammermusikwerk aus der Feder George Gershwins schließlich 1967 doch noch in seiner Originalfassung ans Tageslicht kam. Ira Gershwin, der mit der Verwaltung und dem Ordnen von Georges musikalischem Nachlass betraut war, übersandte Spivacke im März des Jahres Reproduktionen des erhaltenen Stimmenmaterials, mit dem jener das Juilliard String Quartet bekannt machte. Damit begann die verdiente Erfolgsgeschichte dieser charmanten Miniatur. Dem Juilliard String Quartet sollte es vorbehalten sein, den kurzen Quartettsatz in der originalen Besetzung am 29. Oktober 1967 in der Library of Congress erstmals öffentlich zu Gehör zu bringen.

„Es mag vielleicht nicht der Gershwin der Rhapsody in Blue, des Concerto in F oder eines seiner anderen konzertanten Werke sein,“ schreibt Ira, „aber ich finde Lullaby bezaubernd und liebenswürdig.“ Diesem Urteil kann ich mich nur anschließen.

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