Nicht zu Unrecht haftet Satie das Etikett des Außenseiters an. Von seinen frühesten Kompositionen an war er auf der Suche nach Alternativen zur tonalen Harmonik, die zu Beginn seiner Ausbildung am Pariser Conservatoire (1879–87) noch unumstrittene Konvention war. Diese Suche zieht sich wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk, und zwar ganz unabhängig von der stilistischen Orientierung der einzelnen Werke, die ja bekanntlich von mittelalterlichen und exotischen Anklängen bis zur damals populären Kabarettmusik reicht.

Ein wichtiges Hilfsmittel für die konkrete Ausgestaltung der Zusammenklänge waren selbstentworfene harmonische Übersichten und Tabellen, die sich im umfangreichen Nachlass Saties erhalten haben und von Robert Orledge in seiner Abhandlung Satie the Composer (1990) ausführlich beschrieben wurden.

Die innerhalb der Arbeitshefte zu den „Nocturnes“ (1919) hinterlassenen Pläne und Schemata deuten auf ein während der Komposition entwickeltes und modifiziertes System, um das Zusammenspiel von Melodie (rechte Hand) und Begleitung (linke Hand) innerhalb des vorgegebenen tonalen Rahmens – für Nr.1 bis Nr. 3 D-dur, für Nr. 4 A-dur/fis-moll, für Nr. 5–7 geplant F-dur – rigoros zu steuern.

Vor der ersten Niederschrift der „Nocturne“ Nr. 2 notierte sich Satie im entsprechenden Arbeitsheft folgenden Plan:

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. 9666, S. 5

Über dem Schema findet sich die Notiz: „Harmonie: über große Sekunde, reine Quarten und Quinten; manchmal können diese Intervalle auch erhöht oder vermindert werden; keine reine Oktave mehr, niemals die Oktave.“ Darunter, direkt neben dem Plan: „Quarte bevorzugt vor der Quinte verwenden.“

Damit sind die Leitlinien bereits formuliert, im Plan selbst werden die Möglichkeiten der Zusammenklänge von Sekunden (Septimen), Quinten und Quarten auf den verschiedenen Stufen der D-dur-Tonleiter entsprechend bewertet: von „bon“ (gut, vier Möglichkeiten) über „passable“ (leidlich, drei Möglichkeiten) bis zu „faible“ (schwach) und „très mauvais“ (sehr schlecht, je zwei Möglichkeiten).

Man könnte annehmen, dass eine solche Rationalisierung der Harmonik das Komponieren für Satie erleichtert haben müsse – angesichts der zahlreichen abgebrochenen Versuche, Fragmente und Korrekturen in den Arbeitsheften zu den „Nocturnes“ scheint aber gerade das Gegenteil der Fall zu sein. In der Praxis zeigte sich, dass er häufig seine selbstgesetzten Regeln brechen und aus Gründen der Ausgewogenheit, der Stimmführung usw. auch Zusammenklänge mit Prim/Oktav oder Sext/Terz einführen musste

Auch für Herausgeber seiner Musik ist das Edieren durch solche Tabellen und Systeme keineswegs einfacher geworden. Denn insbesondere die Möglichkeit, Intervalle auch in verminderter und übermäßiger Form zu benutzen, führt, da Satie leider öfter Vorzeichen vergaß, zu fragwürdigen Stellen im Notentext.

Einige der Vorzeichen lassen sich, wie nachstehendes Beispiel aus der 2. Nocturne (Takte 15–16) zeigt, in unserer in Kürze erscheinenden Neuausgabe (HN 1205) relativ problemlos ergänzen (siehe Vorzeichen in runden Klammern).

HN 1205, Nr. 2, Takte 15-16

Bei anderen Stellen ist es dagegen nur schwer oder gar nicht zu entscheiden, welches Intervall das gemeinte ist. Eine dieser Stellen sei hier kurz vorgestellt:

HN 1205, Nr. 2, Takte 13–14

Es geht in Takt 14 um das letzte Achtel vor dem „Large“, laut Tonartvorzeichnung haben wir auf der Basis der Bassoktave D/d oben den Zusammenklang von e1/b1/e2. Dies ist im Kontext der Harmonik der gesamten Passage sehr ungewöhnlich. Während die bereits zuvor aufgelöste Oktave als e1/e2 unstrittig ist (Satie vermied konsequent kleine Sekunden, s. Bass), erscheint das b1 der Unterstimme als störend, denn im „Plus lent“-Abschnitt haben wir sonst nur reine Quarten. Außerdem ergibt die Kombination e1/b1/e2 trotz „falschen“ Basses (d statt c) eine Dominant-Leittönigkeit, die Satie eigentlich aus seinem Komponieren ausschließen wollte. Liegt demnach ein simpler Druckfehler vor? Offenbar nicht, denn auch in der erwähnten autographen Niederschrift setzt Satie das Auflösungszeichen erst drei Achtel später (zum Klang a1/h1, um die kleine Sekunde zu vermeiden).

Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. 9666, S. 8

Von Saties System her ist sicherlich das b1 falsch, aber umgekehrt kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Komponist hier bewusst dagegen verstieß, um durch Leittönigkeit (e2 löst sich ja tatsächlich nach f2 auf) den dynamischen Höhepunkt der Passage auch harmonisch hervorzuheben. Letztlich ist diese Stelle nicht sicher zu klären, so dass sich der Herausgeber unserer Neuausgabe, der Satie-Spezialist Ulrich Krämer, entschloss, mit einer Fußnote auf die Bemerkung zu verweisen, wo die Möglichkeit eines vergessenen ♮ (also h1 statt b1) erörtert wird.

Wer nun Lust bekommen hat, die „Nocturnes“ zu hören, dem sei die nachfolgende Aufnahme empfohlen (Pascal Rogé, Nocturnes 1–5, Aufnahme 1988)

 

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