Ludwig van Beethoven gehört unter den Großmeistern zu denjenigen Komponisten, die sehr umfangreiches Skizzenmaterial hinterlassen haben. Wie viele Blätter erhalten sind, lässt sich kaum ermitteln, denn nicht alles ist öffentlich zugänglich. Meine persönliche Schätzung liegt bei 5000 Blättern. Dieses Material birgt einen großartigen Fundus an Skizzen zu bekannten Werken, aber auch viel Unbekanntes.

Als man am 5. Mai 1827 in Wien Beethovens Nachlass versteigerte, war ein Großteil der Auktion Manuskripten gewidmet, die „Eigenhändige Notirungen und Notirbücher“ waren oder „Brauchbare Skizzen, Fragmente und zum Theil unvollstaendige Werke, noch ungedruckt und eigenhaendig geschrieben“. Bei den „Notirungen und Notirbüchern“ handelte es sich um ca 50 Bücher und Hefte mit von Beethoven zusammengebundenen Skizzenblättern. Einige von ihnen waren sehr umfangreich, besonders dick das Buch „Mendelssohn 15“, fast ausschließlich mit Skizzen zu Beethovens einziger Oper „Leonore“ bzw. „Fidelio“ auf 173 Blättern.

Der Komponist war 1798 dazu übergegangen, seine Werke in selbst gebundenen Tischskizzenbüchern und Taschenskizzenheften zu skizzieren statt auf losen Blättern. Diese Bücher und Hefte sollten ihn zeit seines Lebens begleiten, er bewahrte sie bis zu seinem Tode auf, auch wenn die darin entworfenen Kompositionen längst das Licht der Welt erblickt hatten. Denn häufig befanden sich darin auch Ideen und Notierungen, die unausgearbeitet waren und zu späterer Zeit vielleicht einmal einen Zweck erfüllen konnten. Aus demselben Grund bewahrte er auch die zahlreichen losen Blätter auf, die sich vor 1798 bei ihm angesammelt hatten.

Bei der Nachlassversteigerung stürzten sich nun Verlage, allen voran der Wiener Verlag von Domenico Artaria, auch auf dieses lose Material in der Hoffnung, vielleicht unbekannte Perlen darunter zu finden, die sich noch lukrativ veröffentlichen ließen. Doch die Ausbeute war gering. Werfen wir einen Blick in das wohl berühmteste Bündel an losen Blättern, den sogenannten „Kafka Miscellany“ (oder „Kafka Skizzenkonvolut“), die sich heute in der British Library in London befinden. Dieser „Gemischtwarenladen“ an Manuskripten, immerhin 124 Blätter stark, stammt aus dem Fundus der Verlags Artaria und beinhaltet nur sehr wenige vollständige Werkniederschriften.

Autograph des Chorlieds "O care selve, oh cara" WoO 119 im Kafka-Skizzenkonvolut, Blatt 62v, British Library, London

Immerhin finden sich z.B. eine Sonatine aus dem Jahr 1786 für Mandoline und Cembalo WoO 43a, ein Trinklied „Erhebt das Glas mit froher Hand“ WoO 109 von 1791/92, ein nur 20 Takte langes Lied „Der freie Mann“ WoO 117, das in zwei vollständigen Fassungen aus den Jahren 1792 und 1794/95 notiert ist, oder ein 28 Takte langes Chorlied „O care selve, oh cara“ WoO 119 (siehe die Abbildung oben), ebenfalls aus 1794/95. Aus dieser frühen Wiener Zeit stammt auch eine dreistimmige Fuge für Klavier WoO 215.

Eine vielleicht interessantere Gruppe von Niederschriften betrifft jedoch die von Beethoven unvollständig hinterlassenen Werke. Nicht immer ist hierbei festzustellen, ob diese Kompositionen tatsächlich nie fertig komponiert wurden oder ob uns heute einfach nur Teile dieser vollständigen Niederschriften verloren gegangen sind.

Ein inzwischen recht berühmtes Beispiel einer solchen unvollständigen Überlieferung, in diesem Fall vielleicht wirklich ein unvollendetes Werk, ist das „Duo mit zwei obligaten Augengläsern“ für Viola und Violoncello WoO 32. Es besteht aus zwei Sätzen, einem schnellen Sonatensatz und einem Menuett, die Beethoven an unterschiedlichen Stellen im „Kafka-Konvolut“ niederschrieb. Obwohl neben der ungewöhnlichen Besetzung auch vorhandenes Skizzenmaterial den Verdacht erhärten, dass beide Stücke zusammengehören, ist bis heute unklar, was es mit den von Beethoven notierten 23 Takten eines weiteren Stücks auf sich hat, die er im Anschluss an den 1. Satz notierte. War dieses Stück als Ersatz für das Menuett gedacht? Oder als zusätzliches Stück, um vielleicht aus den drei Sätzen eine Sonate zusammenzustellen? Ist die Einheit aus den zwei vollständig erhaltenen Stücken in einem „Duo“ also eigentlich von Beethoven so gewollt?

Fragment von 23 Takten für Viola und Violoncello, vermutlich zum Duo WoO 32 gehörend, Kafka-Skizzenkonvolut, Blatt 137v, British Library, London

Während das Duo in einer aufführbaren Version vorliegt, da ja beide Sätze vollständig notiert wurden (wenn auch Dynamik gar nicht und Artikulation nur sporadisch gesetzt sind), fehlen anderen Kompositionen im Skizzenkonvolut entscheidende Teile. Das trifft auf die in ihrer Besetzung ebenfalls sehr ungewöhnliche Romance cantabile für Querflöte, Fagott, Klavier und Orchester WoO 207 ebenso zu wie auf das Duo für Violine und Violoncello Unv 8 (Zählung nach dem neuen Beethoven-Werkverzeichnis). Die Romanze ist nur in einem 57 Takte langen Minore-Teil erhalten, während der folgende Maggiore-Teil nach vier Takten abbricht. Indizien sprechen dafür, dass dieser Satz einmal vollständig erhalten war, aber auch, dass er der Mittelsatz eines größeren ausgeführten Werks war. So, wie die Romance heute vorliegt, ist sie ohne fremde Vervollständigung jedenfalls noch nicht einmal als Konzertsatz aufführbar.

Eine Seite aus der neuen Urtextausgabe des Duos für Violine und Violoncello Unv 8

Das Duo für Violine und Violoncello Unv 8 würde ein ähnliches Schicksal ereilen. Von dem Sonatensatz ist lediglich eine Exposition erhalten, die am Ende einer Seite abbricht und anschließend nirgendwo im Konvolut oder sonstwo eine Fortsetzung erfährt. Im Gegensatz zur Romance können wir hier nicht sicher sein, dass jemals ein vollständiger Satz vorlag. Umso erfreulicher, dass wir dennoch als eine der ersten Veröffentlichungen des Jahres 2015 dieses Duo in einer aufführbaren Fassung veröffentlichen können (HN 1265). Dies verdanken wir Robert Levin, der auf der Basis des Vorhandenen den Satz vervollständigte und dem Duorepertoire für Violine und Violoncello somit ein kleines Juwel hinzufügte, das den Musikern hoffentlich Vergnügen bereitet.

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2 Antworten auf »Beethovens „Unvollendete“ (Kompositionen)«

  1. Elisabeth Hufnagl sagt:

    Danke von einem absoluten Laien

  2. Atsushi Kono sagt:

    Was wäre die Musikforschung ohne Prof. Robert Levin: Ich bin seit Jahren ein treuer Fan von ihm & seinen immer interessanten sowie sehr aufschlußreichen Ausführungen gerade zu den fragmentarisch überlieferten Werken W.A.Mozarts & L.v.Beethovens, so daß ich schon glauben möchte, daß Herr Prof. Levin entweder ein genialer Detektiv der Musikgeschichte oder die Reinkarnation der genannten Klassiker ist. Anders kann ich mir seine schlüssigen & vor allem überzeugenden Komplettierungen jener (leider nur) unvollständig gebliebenen oder überlieferten Werke kaum erklären!…
    Mit freundlichen Grüßen,

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