Nach fast drei Jahrzehnten war die Zeit reif für eine neue Gesamtausgabe bei Henle – und so haben Beethoven, Haydn und Brahms 2016 mit Béla Bartók Zuwachs bekommen. In einem früheren Blog haben wir anlässlich der Urtext-Ausgabe von Bartóks Allegro barbaro (HN 1400) schon mal einen „Blick durch’s Schlüsselloch“ auf die Gesamtausgabe geworfen, die wir in Kooperation mit Editio Musica Budapest herausgeben. Aber nun hat sich die Tür geöffnet: Vor wenigen Wochen erschien mit „Für Kinder“ (HN 6200) der erste Band der Kritischen Gesamtausgabe Béla Bartók, den wir uns nun mit dem Herausgeber des Bandes und Leiter der Gesamtausgabe, László Vikárius, einmal genauer ansehen wollen.


AO: Lieber Herr Vikárius, zu Beginn eine kleine Provokation: Wozu braucht die Welt eine Bartók-Gesamtausgabe?

LV: Im Henle-Blog braucht man wohl nicht zu betonen, was eine Gesamtausgabe generell für einen Komponisten bedeutet. Für Bartók im besonderen ist sie aber aus mehreren Gründen wichtig: Zuerst gibt es die „klassischen“ Textprobleme eines Komponisten des 20. Jahrhunderts, dessen Werke in verschiedenen Ländern und Auflagen erschienen sind. Sie sind in einer Gesamtausgabe viel besser als in einer praktischen Ausgabe zu handhaben, da wir hier mit Fußnoten, Anhängen und Kritischem Bericht viele Möglichkeiten der optimalen Präsentation von Varianten für den Musiker haben. Bei Bartók haben wir zudem den Sonderfall, dass seine Aufnahmen der Klavierwerke wichtige neue Varianten enthalten (mitunter von ganzen Formteilen!), die dann transkribiert und in der Gesamtausgabe berücksichtigt werden können.

Darf ich noch hinzufügen, dass es vielleicht zu keinem anderen Komponisten mehr als eben zu Bartók passt, seine Werke endlich wissenschaftlich, d.h. historisch-kritisch zu edieren? Schließlich hat er selbst bei seiner volksmusikalischen Forschung eine ungeheure wissenschaftlich-editorische Arbeit geleistet. Er hat die ungarische, rumänische, slowakische und arabische Volksmusik ja nicht nur gesammelt, sondern in höchst detaillierten Transkriptionen und Dokumentation klassifiziert, Varianten gelistet, Querverbindungen und Typen festgestellt. Seine viele Bände umfassenden Ausgaben dieser Musik sind auch kritische Ausgaben seiner eigenen Sammlungen.

Bartók beim Transkribieren

AO:  Eine solche „historisch-kritische“, also den gesamten Entstehungsprozess dokumentierende wissenschaftliche Edition ist also das Ziel. Dies ist allerdings bei einem erst 1945 verstorbenen Komponisten, der zunächst in Ungarn und später in Amerika lebte, wesentlich schwieriger zu erreichen als bei Beethoven oder Brahms – weswegen das Projekt auch so lange nur geplant, aber nicht realisiert wurde.

LV: Ja, László Somfai, der viel Erfahrung mit der kritischen Edition klassischer Musik hatte, plante schon vor Jahrzenten eine Gesamtausgabe. Aber die teilweise Unzugänglichkeit der Quellen in zwei verschiedenen Sammlungen (in Ungarn und in den USA) und urheberrechtliche Probleme machten die Umsetzung unmöglich. Bei der Quellenlage änderte sich dies Ende der 1980er Jahre: Damals stellte Péter Bartók dem Bartók-Archiv dankenswerterweise Kopien aller Kompositionshandschriften in seinem Besitz zur Verfügung, damit hatten wir endlich auch Zugang zu allen Quellen des sogenannten amerikanischen Nachlasses.

AO: Damit ist das Stichwort Bartók-Archiv gefallen – was ist das Besondere an dieser Budapester Institution?

LV: Das 1961 gegründete Bartók-Archiv kann wohl als zentrale Forschungsstelle für Bartók erachtet werden: Hier wird der ungarische Bartók-Nachlass – früher im Besitz von Béla Bartók Junior, jetzt seines Nachfolgers Gábor Vásárhelyi – aufbewahrt, außerdem sind im Laufe der Jahre viele weitere Quellen gesammelt worden. Wir arbeiten in engem Kontakt mit der Paul Sacher Stiftung (wo Péter Bartóks Sammlung inzwischen deponiert wird) und dem belgischen Bartók-Archiv (Nachlass von Denijs Dille, ehemaliger Leiter des Budapester Bartók-Archivs) an der Königlichen Bibliothek zu Brüssel haben. Damit haben wir die optimale Grundlage für die Arbeit an der Gesamtausgabe.

AO: Und wie ist die Arbeit an einer solchen Gesamtausgabe eigentlich organisiert?

LV: Wir haben natürlich eine Editionsleitung, in der mit László Somfai, Márton Kerékfy und mir sozusagen drei Generationen der Bartók-Forschung zusammensitzen. Zum Glück können wir mit Herrn Somfai, der ja jahrzehntelang an der Vorbereitung gearbeitet hat, alles detailliert besprechen. Mein junger Kollege Márton Kerékfy ist dank seiner Erfahrungen als Mitarbeiter im Bartók-Archiv wie als Cheflektor im Verlag Editio Musica Budapest bestens qualifiziert für die Redaktion der Gesamtausgabe.
Außerdem haben wir einen wissenschaftlichen Beirat berufen, der durch renommierte Forscher aus Deutschland, Frankreich, England, Australien, die Vereinigten Staaten und Ungarn international aufgestellt ist. Wichtig war uns dabei, dass nicht nur namhafte Bartók-Forscher (wie Malcom Gillies, Klára Moricz oder Tibor Tallián) mitwirken, sondern auch andere Komponisten des 20. Jahrhunderts vertreten sind (wie Stravinsky durch Richard Taruskin oder Debussy durch Denis Herlin). Dieser Erfahrungsaustausch hat sich schon jetzt als sehr wertvoll für die konkrete Arbeit an der Ausgabe erwiesen. Wolf-Dieter Seiffert, der so viel für die Realisierung der Gesamtausgabe getan hat und auch im wissenschaftlichen Beirat sitzt, muss gerade hier nicht vorgestellt werden.

Foto von der Gründungssitzung des Advisory board 2015 in der Franz-Liszt-Akademie in Budapest (von rechts: L. Somfai, W.-D. Seiffert, M. Gillies, T. Tallián, Kl. Móricz, R. Taruskin, M. Kerékfy, A. Boronkay, L. Vikárius, V. Lampert, A. Oppermann)

AO: Eine Besonderheit in Bartóks Œuvre ist die Arbeit mit volksmusikalischen Vorlagen. Wie spiegelt sich das eigentlich in der Gesamtausgabe wieder?

Bartóks Übertragung eines Volkslieds (Musikwissenschaftliches Institut, Budapest). Zum Vergrößern anklicken.

LV: Die identifizierbaren volksmusikalischen Vorlagen werden für jedes Werk erschlossen und präsentiert. Häufig entstammen sie Bartóks eigenen Sammlungen und sind in mehreren Quellen – Transkriptionen, Phonografenaufnahmen oder Edition – überliefert. Erst auf Grundlage dieser Quellen ist Bartóks Verständnis der Folklore und die Rolle der Volksmusik in seinen Werken nachzuvollziehen.

AO: Das gilt auch und gerade für den vor wenigen Wochen erschienenen ersten Band der Gesamtausgabe Für Kinder, nicht wahr?

LV: Ja, die Volksmusik spielt eine wesentliche Rolle in Für Kinder, und entsprechend aufwendig haben wir die ungarischen und slowakischen Lied-Vorlagen mit mehrsprachigen Texten in einem Anhang präsentiert. Hier war die Unterstützung meiner Mitherausgeberin Vera Lampert, die Verfasserin des grundlegenden Katalogs über Bartóks Volksliedbearbeitungen (HN 2617) ist, natürlich sehr hilfreich.

Aus dem Anhang der Gesamtausgabe. Zum Vergrößern anklicken.

Ebenfalls höchst interessant ist der Umstand, dass Für Kinder in zwei Fassungen existiert, von denen die eine zu Beginn von Bartóks kompositorischer Laufbahn (1908–1911), die andere hingegen in seinen letzten Lebensjahren (1943) entstand. Zum direkten Vergleich präsentieren wir diese zwei Fassungen ausnahmsweise synoptisch. Die Unterschiede betreffen manchmal nur kleine (aber wichtige) harmonische Nuancen, mitunter auch spezifische Notationsfragen. Bartók änderte nämlich um 1908 seine Notationsgewohnheiten auf Grund von avantgardistischen Ideen geradezu revolutionär. So verzichtete er wegen der freien Behandlung der Tonalität einige Jahre grundsätzlich auf Generalvorzeichnungen, die er später dann bei der Revision dieser Stücke doch einführte – wenn auch manchmal etwas ungewöhnlich unter minutiöser Berücksichtigung der modalen Tonleiter der Melodien.

Aus dem Kritischen Bericht der Gesamtausgabe. Zum Vergrößern anklicken.

AO: Was war für Sie das Besondere an der Arbeit an diesem ersten Band?

LV:  Das intensive Studium dieser fantastisch vielseitigen Reihe in verschiedenen Fassungen: Zunächst musste ja die Entstehung der zwei Fassungen auf Grund der Drucke und  handschriftlichen Quellen sorgfältig rekonstruiert werden, dann aber waren die beiden Fassungen in der Edition wieder sorgsam auseinanderzuhalten. Die Ergründung der frühen entstehungsgeschichtlichen Schichten und der manchmal sehr subtilen Unterschiede zwischen den Fassungen, ist dabei natürlich für jeden Bartók-Forscher besonders spannend.

Frühfassung und revidierte Fassung in der Gesamtausgabe. Zum Vergrößern anklicken.

AO: Für Kinder ist also ein spannendes Editionsprojekt, aber vielleicht nicht gerade das berühmteste Werk Bartóks. Wieso haben Sie damit die Gesamtausgabe eröffnet?

LV: Eine Gesamtausgabe ist ja ein langfristiges Unternehmen und es sind schon viele verschiedene Bände – auch mit berühmten Werken wie Mikrokosmos oder Konzert für Orchesterin Arbeit. Als wir uns aber letztes Jahr entscheiden mussten, erschien uns Für Kinder als erste Veröffentlichung der Bartók-Gesamtausgabe besonders geeignet. Zunächst zeigen diese meisterhaft und äußerst ökonomisch komponierten kleinen Stücke Bartóks Individualstil gleich am Anfang seiner Entstehung um 1908 und erste Entwicklung bis 1911, damit bilden sie auch chronologisch betrachtet einen guten Einstieg in die Gesamtausgabe. Dass jedes Stück eine Volksliedbearbeitung ist, macht den Benutzer zugleich mit Bartóks ureigenster Quelle, der Folklore, vertraut. Schließlich bietet Für Kinder durch die zwei Fassungen und eine hochkomplexe Quellensituation geradezu ein Paradebeispiel für die Fragen der Bartók-Edition, an dem die Methoden der Systematisierung und Darstellung der Quellen im Kritischen Bericht erprobt werden konnten. Ebenfalls spannend ist, dass man hier nicht nur die Entstehung von Individualstücke studieren, sondern auch verfolgen kann, wie die – musikalisch wie pädagogisch höchst planvoll gegliederte – ganze Sammlung entsteht.

Titelblatt der Erstausgabe

Für Kinder ist Bartóks erster größerer Versuch Kinderstücke zu schreiben und einen Beitrag zur pädagogischen Literatur zu liefern, in den sowohl Erfahrungen mit Volksmusik, als auch aktuellste zeitgenössische kompositorische Ideen eingehen. Die Reihe war aber nicht nur instrumental- oder musikpädagogisch gemeint. Mit der entscheidenden Hinwendung zur Kultur der Bauern, einer unterdrückten Gesellschaftsschicht, und sogar auch zur Volkskultur der damaligen Minderheiten Ungarns, erhielt das Unternehmen auch allgemein pädagogische, sozialpädagogische Bedeutung, die in den Stücken immer noch spürbar ist. Die Frische der Melodien und Rhythmen, die Originalität der Bearbeitung stammen aus diesem revolutionären Gestus. Darüber hinaus wirkt Für Kinder in Ungarn bis heute nicht nur im Klavierunterricht, sondern auch und gerade im Kompositionsstudium fort. Die Bände werden an der Budapester Musikakademie gewissermaßen als Mustersammlung für die Behandlung ungewöhnlicher Elemente der Volksmusik verwendet.

AO: Es gibt also wahrlich viele Gründe, mit Für Kinder die neue Gesamtausgabe und damit auch einem internationalen Publikum einen neuen Blick auf Bartók zu eröffnen. Ich danke Ihnen sehr herzlich für diese spannende Einführung. Zu guter Letzt die obligatorische Frage: Worauf dürfen wir uns in den nächsten Jahren freuen?

LV: Als nächstes soll Bartóks Konzert für Orchester (mit einer Übertragung sämtlicher Skizzen) erscheinen, zugleich sind Bände mit Klaviermusik 1914–1920, dem Mikrokomos und den sechs Streichquartetten in Vorbereitung. Vielleicht besonders erwähnenswert ist ein ganzer Band Chormusik, der Bartók hoffentlich auch außerhalb von Ungarn als bedeutenden Chorkomponisten bekannt machen wird.

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