In der Regel berichten wir in unseren Blogbeiträgen aus der aktuellen Verlagsarbeit und über interessante Funde in unseren Neueditionen. Aber auch unsere älteren Ausgaben liegen keineswegs „vergessen“ im Archiv, sondern werden von uns immer wieder prüfend mit dem aktuellen Forschungsstand verglichen und im Zuge einer Neuauflage bei Bedarf aktualisiert oder korrigiert. Ein ganz aktuelles Beispiel stammt aus Robert Schumanns Fantasiestücken op. 73 für Klavier und Klarinette (HN 416).

Hierzu erhielten wir kürzlich den interessanten Hinweis auf ein fragwürdiges Vorzeichen im ersten der drei Stücke: Ob es in T. 31 und 32, Klavier rechte Hand, nicht e2 statt es2 heißen müsste (siehe gelbe Markierung), zumal in einer anderen modernen Ausgabe hier ein Auflösungzeichen stünde?

Henle Urtextausgabe, T. 29–32

Auf den ersten Blick ist das es2 in der rechten Hand tatsächlich merkwürdig – immerhin spielen die Klarinette (hier transponierend in A notiert) und das Klavier in der linken Hand eine lupenreinen gebrochenen verminderten Akkord b–des–e–g. Und diese Noten spielt auch die rechte Hand – bis eben auf das fragliche es (und die eingestreute Durchgangsnote c). Muss das nicht ein Druckfehler sein…?

Da wir den Komponisten nicht mehr fragen können, müssen die Quellen für ihn sprechen – immerhin ist das Autograph erhalten, das unzweideutig ein b-Vorzeichen vor den betreffenden Noten zeigt:

Autograph, T. 31–32

Beachtenswert ist übrigens auch, dass Schumann hier ausdrücklich Auflösungszeichen vor (fast alle) anderen Noten e im Klavier setzt, obwohl sie gemäß Tonart nicht notwendig wären, als wolle er möglichen Unklarheiten vorbeugen…

Allerdings ist das Autograph nicht der Weisheit letzter Schluss, da für die Drucklegung der Fantasiestücke eine (heute verschollene) Abschrift als Stichvorlage erstellt wurde, in der Schumann noch viele kleine Änderungen vornahm und sozusagen weiterkomponierte. Auch den Notenstich des Erstdrucks überwachte Schumann sorgfältig; hierzu erhielt er vom Verlag Korrekturabzüge. Und trotz alledem steht in der Erstausgabe weiterhin ein unbestreitbares b vor den Noten:

Erstausgabe C. Luckhardt 1849, T. 31

Erstausgabe C. Luckhardt 1849, T. 32

 

 

 

 

 

 

 

So weit, so eindeutig. Nun wird es aber doch noch spannend – denn Schumann besaß von all seinen gedruckten Werken jeweils ein Handexemplar in seiner Bibliothek, in dem er nachträglich Korrekturen von Druckfehlern festhielt. Und hier finden sich tatsächlich Spuren eines mit blauem Buntstift eingetragenen Auflösungszeichens:

Handexemplar, T. 31

Handexemplar, T. 32

 

 

 

 

 

 

(Robert-Schumann-Haus Zwickau; Abbildungen mit freundlicher Genehmigung)

Belegt das nicht Schumanns abschließende Entscheidung zu dieser Frage? Ich zweifle allerdings stark an der Gültigkeit dieser einzelnen Eintragung. Nicht nur sind sämtliche anderen Korrekturen in diesem Exemplar mit einem anderen Stift und anderem Duktus vorgenommen worden, das blaue Vorzeichen wurde auch wieder ausradiert, wie die beschädigten Notenlinien zeigen. Stammt es von einer anderen (späteren?) Hand, vielleicht bei einer Durchsicht im Rahmen der ersten Gesamtausgabe der Werke Robert Schumanns irrtümlich eingetragen und wieder entfernt? In dem entsprechenden Band sah die Herausgeberin Clara Schumann übrigens auch keinen Anlass, das Vorzeichen zu ändern:

Und ich meine, noch ein weiteres Indiz für die Richtigkeit des b-Vorzeichens zu erkennen: im Exemplar der Erstausgabe sind genau an dieser Stelle Spuren einer Stichplattenkorrektur zu erkennen, nämlich Überreste eines getilgten Auflösungszeichens, die unter dem neugestochenen b schwach hervorscheinen:

Handexemplar, T. 31, Detail

Handexemplar, T. 32, Detail

 

 

 

 

 

 

 

Das kann aber nur bedeuten, dass Schumann bei seiner Korrekturlesung der Fahnen diese „Verschlimmbesserung“ des Notenstechers ganz bewusst wieder rückgängig gemacht hat. So verführerisch logisch das e zu sein scheint, so sollten wir doch den Quellenzeugnissen größeres Gewicht einräumen, und dem „poetisch-fantastischen“ es gegenüber dem „prosaischen“ e den Vorzug geben – bei welchem Komponisten wäre das angebrachter als bei Schumann …?

Wir werden daher den Notentext unserer Ausgabe nicht ändern, aber mit einer zusätzlichen Fußnote gezielt auf diese Problematik hinweisen.

Eine weitere Bestätigung für die Richtigkeit des es kommt übrigens von den Künstlern selbst: ich konnte keine einzige Aufnahme der Fantasiestücke finden, in der ein Pianist das gedruckte Vorzeichen infrage gestellt und e gespielt hätte. Hören Sie selbst, in der exquisiten Interpretation von Sabine Meyer und Alexander Lonquich, wie überzeugend dieser Takt klingen kann!

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3 Antworten auf »Schumann revisited – zu einem sonderbaren Vorzeichen in den Fantasiestücken op. 73«

  1. Christian Kluttig sagt:

    Vielen Dank – und 100 % Zustimmung zur schlüssigen, gut formulierten Argumentation und dem Ergebnis der Überlegungen !
    Vielleicht findet sich ein weiterer kluger Kopf, der einmal im dritten dieser Fantasiestücke den Violoncellopart untersucht…. Stammt denn im 1. Takt und analog die Verdoppelung der Achtel in Sechzehntel von Schumann selbst ? Wenn ja, warum hat er dann in der Violinfassung keine 16tel notiert ?

    • Sehr geehrter Herr Kluttig,
      zu den Einrichtungen des Soloparts für Violoncello bzw. Violine existieren leider keine autographen Quellen. Unsere Edition folgt der Erstausgabe (die auch hinsichtlich Klarinette und Klavier die Fassung letzter Hand und die Hauptquelle darstellt). Unser Herausgeber Ernst Herttrich vermerkt dazu:
      „Inwieweit Schumann die beiden Streicherstimmen selbst überarbeitet hat, ist nicht mehr zu ermitteln. Daran, dass Schumann sie auf jeden Fall akzeptiert und autorisiert hat, kann kein Zweifel bestehen. Aus einer Tagebucheintragung geht hervor, dass Clara Schumann am 9. März 1852 nach einem Diner im Leipziger Haus des Fürsten Reuß die drei Stücke zusammen mit dem Geiger Ferdinand David vortrug.“
      Übrigens enthalten durchaus beide Streicherfassungen die von Ihnen angesprochenen Sechzehntelnoten, und so steht es sowohl in unserer Edition wie auch schon in der Erstausgabe, die auf der Website des Brahms-Instituts in Lübeck digital einsehbar ist (einfach anklicken):
      Violinstimme, Beginn Nr.3
      Cellostimme, Beginn Nr.3
      Handelt es sich bei Ihrer Violinausgabe vielleicht um eine Neubearbeitung eines anderen Herausgebers? Zumindest entspricht die Version ohne Sechzehntel nicht dem Urtext.

  2. Christian Kluttig sagt:

    Sehr geehrter Herr Rahner,
    ebenso herzlichen Dank für Ihren schlüssigen Kommentar.
    Ich hatte nur nach einem zusätzlichen Argument gesucht, die jeweiligen Streicher zur Zurückhaltung beim Beginn des Aufgangs “zu überreden”. Das ist im 1. Takt zwar eindeutig, in den folgenden Analogstellen wird man sich aber immer aufs Neue daran erinnern müssen, dass die 16tel dazu dienen sollen, das crescendo zu verstärken. Und ein spiccato ist hier ebensowenig angebracht wie bei den entsprechenden Streicherpassagen der Sinfonien. Freundliche Grüße, C.K.

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