Beethoven und die Variation – ich gebe zu: Das ist in unserem Henle-Blog nun kein neues Thema mehr. Mein Kollege Dominik Rahmer hat im Januar schon eine umfassende Gesamtschau auf das Variationenschaffen des Bonner Jubilars beigesteuert, in der er vor allem Entdeckungen akzentuiert und Ihnen, unserer Lesergemeinde, vorgestellt hat. Mit einer Entdeckung kann ich nun heute nicht aufwarten, es soll nämlich um die berühmten
Diabelli-Variationen op. 120 gehen.

Erst 2019, also im vergangenen Jahr, erschien im Rahmen der Revision aller Klaviervariationen (HN 1267 und HN 1269) eine revidierte Einzelausgabe des Diabelli-Zyklus. Warum eine Revision? Nun, der Band mit Klaviervariationen innerhalb der neuen Beethoven Gesamtausgabe (und als Henle Urtextausgabe) war zwar schon zu Beginn der 1960er Jahre erschienen, allerdings ohne kritischen Bericht. Dieser ist nun vorbereitet und steht kurz vor Veröffentlichung, und bei dieser Wiederbegegnung mit dem Quellenmaterial konnten in der revidierte Urtextausgabe Details im Notentext etwas transparenter dargestellt werden: Der Pianist wird nun mit einer Reihe von Fußnoten auf fragliche Stellen im Notentext hingewiesen. Vor allem aber konnte nun dem Notentext ein Bemerkungsteil, ein Kritischer Bericht, nachgestellt werden, der über die Quellen und verschiedene Lesarten informiert. Kurzum: Die Ausgabe wurde nun zur vollgültigen Urtextausgabe!

Anton Diabelli (1781–1858)

Die legendäre Entstehungsgeschichte der Diabelli-Variationen ist vermutlich hinlänglich bekannt, trotzdem zur Auffrischung ein paar Eckdaten. Anton Diabelli (uns vor allem durch leichte Literatur für Klavier zu 4 Händen bekannt) gründete 1818 zusammen mit Pietro Cappi den Musikverlag Cappi & Diabelli, in dem vor allem Populäres – Tänze, Variationen – erscheinen sollten. Schon kurz nach der Gründung muss Diabelli die Idee gehabt haben, zeitgenössische österreichische Tonsetzer zu bitten, für ihn jeweils eine Variation über ein Walzer-Thema zu schreiben, das er selbst komponiert hatte. Viele Komponisten kamen der Aufforderung nach und sandten je eine Variation ein. Nicht jedoch Beethoven, der sich, eigensinnig wie er war, vermutlich schon 1819 daran machte, gleich eine ganze Variationenreihe zu schreiben, die schließlich so ausuferte, dass erst 1823 die „33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli“ fertiggestellt waren. Am Gemeinschaftsprojekt hatte er wenig Interesse, auch vom Thema hielt er nicht viel. Beethoven schrieb später an Diabelli, als dieser ihn um eine vierhändige Klaviersonate bat: „Bester Herr! wozu wollet ihr denn noch eine Sonate von mir?! Ihr habt ja ein ganzes Heer Komp.[onisten], die es weit beßer können als ich, gebt jedem einen Takt, welch wundervolles werk ist da zu nicht zu erwarten? – Es Lebe dieser euer Österr. verein, welcher SchusterFleck – Meisterl.[ich] zu behandeln weiß“.

Der Sarkasmus ist offenkundig. Das Thema bezeichnet Beethoven hier als „Schusterflecken“, und mit dem „Österreichischen Verein“ bezieht er sich auf alle jene Komponisten, die folgsam je eine Variation zum Großprojekt beigesteuert hatten. Diabelli hatte Beethovens Mammutwerk op. 120 zunächst im Jahr 1823 separat erscheinen lassen, gab aber die Idee einer Variationensammlung nicht auf und legte schließlich 1824 einen Doppelband vor: In der ersten Abteilung Beethovens 33 Veränderungen, in der zweiten Abteilung 50 Variationen von 50 Komponisten, mit einer Coda von Carl Czerny. Das Ganze firmierte unter dem Namen „Vaterländischer Künstlerverein“ und wurde folgendermaßen angekündigt:

„Alle vaterländischen jetzt lebenden bekannten Tonsetzer und Virtuosen auf dem Fortepiano, fünfzig an der Zahl, hatten sich vereint, auf ein und dasselbe ihnen vorgelegte Thema, jeder eine Variation zu componiren […]. Schon früher hatte unser große [!] Beethoven […] auf dasselbe Thema in 33 (bey uns erschienenen) Veränderungen, die den ersten Theil dieses Werkes bilden, in meisterhaft origineller Bearbeitung alle Tiefen des Genies und der Kunst erschöpft. Wie interessant muß es daher seyn, wenn alle andern Tonkünstler […] auf Oesterreichs classischem Boden […] über dasselbe Motiv ihr Talent entwickeln […].“

Franz Xaver Mozart (1791–1844)

Es ist wahrhaftig erstaunlich, welche Persönlichkeiten zu Mitgliedern dieses „Künstlervereins“ wurden. Nebenbei bemerkt: Auch Wolfgang Amadeus Mozarts Sohn, Franz Xaver Wolfgang Mozart, folgte Diabellis Einladung zum Künstlerverein. Und auch er konnte sich nicht zurückhalten und lieferte gleich zwei Variationen, von denen Diabelli aber nur eine druckte. Wer sich das genauer anschauen möchte: In unserer Gesamtausgabe der Klavierwerke Franz Xaver Mozarts sind natürlich beide Variationen enthalten!

Nun aber noch ein Wort zum Notentext selbst. Wie eingangs erwähnt, haben wir die revidierte Ausgabe zum Anlass genommen, unsere Partitur an einigen Stellen zu verdeutlichen oder gar zu korrigieren. Relative Berühmtheit hat eine Passage erfahren, die auf den ersten Blick unscheinbar ist, aber immer wieder zu Rückfragen von Pianisten geführt hat. Erst vor Kurzem hat Michael Korstick in unserem Blog auf diesen Takt hingewiesen, der in der alten Henle-Ausgabe – leider! – schlicht falsch war. Es geht um T. 56 in Variation X. Der bisherige Notentext brachte folgende Lesart

Auf den ersten Blick stimmt hier alles, man vergleiche T. 54, wo sich eine Oktave tiefer ähnliches ereignet: Die Aufwärtsbewegung „knickt“ in beiden Takten mit dem letzten Akkord ab. Aber bei vielen Pianisten stellte sich hier Unbehagen ein. Sollte es in T. 56 nicht noch eine „Etage“ höher gehen, bis zum f? Hier der Befund in den Quellen

Autograph. Mit freundlicher Genehmigung des Beethoven-Hauses Bonn.

Überprüfte Abschrift. Mit freundlicher Genehmigung des Beethoven-Hauses Bonn.

Originalausgabe. Mit freundlicher Genehmigung des Beethoven-Hauses Bonn.

Die Sache ist eindeutig. Zwar ist Beethovens Handschrift nicht immer leicht zu lesen, aber die Dauer der Oktavierung und die Platzierung von loco lassen keine Zweifel zu. Genauso liest die überprüfte Abschrift diese Passage, gleichfalls die Originalausgabe (warum allerdings hier der erste Akkord in T. 57 nun auch eine Oktave zu hoch geraten ist, scheint rätselhaft). Probieren Sie es einmal aus – so scheint die Passage in ihrem himmelstürmenden Gestus viel logischer. Und so notiert auch unsere revidierte Urtextausgabe

Erstklassige Einspielungen der Diabelli-Variationen gibt es genug. Hervorheben möchte ich diejenige von Andreas Staier auf dem Nachbau eines Conrad Graf-Hammerflügels. Staier bietet nicht „nur“ Beethovens Opus, sondern auch eine Auswahl von 10 Variationen anderer Komponisten des Künstlervereins. Eine Entdeckungsreise! Und schließlich: Kultstatus (auch bei mir!) besitzt Rudolf Serkins Einspielung, 1957 aus Marlboro, Vermont, in deren Verlauf in der c-moll-Variation XXXI im Hintergrund eine Grille zirpt – ein Moment für die Ewigkeit!

 

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