Wenn ein Kom­po­nist sich ent­schließt, eines sei­ner Werke zu Leb­zei­ten nicht zu ver­öf­fent­li­chen, gibt es in der Regel gute Grün­de dafür: Ent­we­der es han­delt sich um ein Ju­gend- oder Stu­di­en­werk, das zu un­be­deu­tend für eine Druck­le­gung wäre oder eine in­zwi­schen auf­ge­ge­be­ne Stil­rich­tung re­prä­sen­tiert. Oder es stellt ein Ge­le­gen­heits­werk im wahrs­ten Sinn des Wor­tes dar, das nur pri­va­ten Auf­füh­rungs­zwe­cken die­nen soll. Letz­te­res trifft auch auf Ca­mil­le Saint-Saëns’ wohl po­pu­lärs­te Kom­po­si­ti­on zu, auf Le Car­na­val des ani­maux (kom­po­niert 1886, er­schie­nen pos­tum 1922).

Die Ent­ste­hungs- und Auf­füh­rungs­ge­schich­te ist zu be­kannt, als dass sie hier im De­tail wie­der­holt wer­den müss­te (vgl. Vor­wort in HN 939 oder HN 9939). Saint-Saëns hatte of­fen­bar zu kei­nem Zeit­punkt an eine Pu­bli­ka­ti­on ge­dacht – es ging ihm um einen par­odis­ti­schen Bei­trag, der sei­nen so­zu­sa­gen na­tür­li­chen Platz in der Kar­ne­vals­zeit im Rah­men von pri­va­ten oder halb­öf­fent­li­chen Ver­an­stal­tun­gen hatte – wobei neben den Dar­bie­tun­gen am „Mardi gras“ (Fa­schings­diens­tag) auch sol­che am „Mi-Carême“ (Fas­ten­pau­se in der Mitte zwi­schen Ascher­mitt­woch und Os­tern) als Kar­ne­vals­auf­füh­run­gen gal­ten. Eine Aus­nah­me bil­de­te Nr. 13 Cygne (Schwan), die der Kom­po­nist in einer Be­ar­bei­tung für Vio­lon­cel­lo und Kla­vier (das Ori­gi­nal im Car­na­val ist für Cello und zwei Kla­vie­re ge­schrie­ben) be­reits 1887 her­aus­gab. Aber diese Aus­nah­me ist in­so­fern ver­ständ­lich, als das Mo­ment der Sa­ti­re hier ganz zu­guns­ten der Kan­ta­bi­li­tät des Streich­in­stru­ments zu­rück­tritt – ein Stück ernst­haf­ter Musik, das sich nur durch den Bezug auf den Schwan in die Tier­welt der üb­ri­gen Stü­cke des Car­na­val ein­ord­net.

Als Gan­zes wurde die „Gran­de Fan­tai­sie zoo­lo­gi­que“, wie Saint-Saëns seine Kom­po­si­ti­on im Un­ter­ti­tel nann­te, bis 1894 min­des­tens zehn Mal in Paris auf­ge­führt und dabei immer mit durch­schla­gen­dem Er­folg. Die damit ein­her­ge­hen­de wach­sen­de Be­liebt­heit war je­doch nicht im Sinne des Kom­po­nis­ten, der ja sei­nen Ehr­geiz ei­ner­seits auf seine Werke in Kam­mer­mu­sik und Sym­pho­nik, an­de­rer­seits auf seine Büh­nen­wer­ke aus­rich­te­te. In der Folge un­ter­sag­te er wei­te­re öf­fent­li­che Auf­füh­run­gen und gab das Werk auch nicht für die Ver­öf­fent­li­chung frei. Im Tes­ta­ment von 1911 ließ er im­mer­hin zu, dass Le Car­na­val des ani­maux nach sei­nem Tode bei sei­nem Haus­ver­lag Du­rand er­schei­nen dürfe, was denn auch nur drei Mo­na­te nach sei­nem Tod, im März 1922, aus­ge­führt wurde.

Ti­tel­sei­te der Erst­aus­ga­be von 1922 (Paris, Bi­bliothèque na­tio­na­le de Fran­ce)

Für eine Ur­text-Edi­ti­on scheint bei die­ser Quel­len­la­ge auf den ers­ten Blick das 1886 nie­der­ge­schrie­be­ne Au­to­graph die ein­zi­ge Quel­le, da ja die Erst­aus­ga­be pos­tum ohne Be­tei­li­gung des Kom­po­nis­ten er­schien. Al­ler­dings fin­den sich im Au­to­graph keine der üb­li­chen Ver­lags- oder Ste­cher-Ein­tra­gun­gen, das auf seine Funk­ti­on als Stich­vor­la­ge deu­tet; au­ßer­dem er­gibt sich beim Ver­gleich bei­der Quel­len eine ganze Reihe von klei­nen Ab­wei­chun­gen. In­so­fern liegt der Ge­dan­ke nahe, dass die heute ver­lo­re­nen Stim­men, die Saint-Saëns für die Ur­auf­füh­rung aus­schrei­ben ließ, di­rekt oder in­di­rekt eine Rolle für die Erst­aus­ga­be ge­spielt haben.

Die mar­kan­tes­te Ab­wei­chung be­trifft Nr. 12 Fos­si­les (Fos­si­li­en). Diese Num­mer ist in­so­fern ein Son­der­fall, als auf engs­tem Raum gleich sechs ver­schie­de­ne Me­lo­di­en ver­ar­bei­tet wer­den, vier po­pu­lä­re fran­zö­si­sche Volks­lie­der sowie die Ca­vati­ne aus Ros­si­nis Bar­bier von Se­vil­la und ein ron­do­ar­tig wie­der­keh­ren­des Thema aus der ei­ge­nen sym­pho­ni­schen Dich­tung Danse mac­ab­re. Warum aber heißt die Num­mer Fos­si­les? Es han­delt sich – sei es aus der Volks-, sei es aus der Kunst­mu­sik stam­mend – um Me­lo­di­en, die, wie es Mi­cha­el Ste­ge­mann aus­ge­drückt hat, „tau­send­fach ab­ge­spielt, tot­mu­si­ziert und schließ­lich zu Fos­si­li­en der Ton­kunst ver­stei­nert“ sind. Dies soll wohl auch die klei­ne Zeich­nung aus­drü­cken, die Saint-Saëns auf dem Ti­tel­blatt von Nr. 12 hin­ter­las­sen hat: ein Ske­lett eines ur­zeit­li­chen Tiers, das so­zu­sa­gen wie das Ge­rüst der vor­ge­führ­ten Me­lo­di­en zu einem Fos­sil ver­stei­nert ist.

Im zwei­ten Ab­schnitt (Takte 17–25) ver­ar­bei­tet Saint-Saëns das seit dem 18. Jahr­hun­dert sehr po­pu­lä­re Lied J’ai du bon tabac dans ma ta­ba­tière, das bis heute in kaum einer Samm­lung fran­zö­si­scher Volks- oder Kin­der­lie­der fehlt.

Ohne Frage: Diese Me­lo­die kann­te und kennt bis heute jeder in Frank­reich – so­zu­sa­gen bis zum Über­druss. Saint-Saëns ver­hilft dem Fos­sil durch zwei Ein­grif­fe zu neuem Leben: Er fä­chert die Me­lo­die po­ly­phon durch Ge­gen­stim­men (mit Um­keh­rung der prä­gnan­ten Ach­tel­be­we­gung) sowie har­mo­nisch durch Mo­du­la­tio­nen in be­nach­bar­te Ton­ar­ten auf. Der Takt 24 kurz vor dem Ende des Ab­schnitts fun­giert als Rück­füh­rung von c-moll zur To­ni­ka B-dur, die in Takt 25 als Ab­schluss er­scheint.

Au­to­graph, Takte 20-24 (Paris, Bi­bliothèque na­tio­na­le de Fran­ce, Ms. 2456); Be­set­zung: Vio­li­ne 1, Vio­li­ne 2, Viola, Vio­lon­cel­lo, Kon­tra­bass

Erst­aus­ga­be, Takte 21-24

In der Erst­aus­ga­be sind die Noten der Vio­li­ne 1 und der Viola ge­än­dert, und zwar so, dass Ko­pier­ver­se­hen oder Stich­feh­ler aus­ge­schlos­sen sind. Vio­li­ne 1 hat in der ers­ten Takt­hälf­te im Druck c2d2es2c2 statt ori­gi­nal es2d2c2es2. Der Grund für die Än­de­rung scheint zu sein, Ok­ta­ven­par­al­le­len mit Cello und Kon­tra­bass zu ver­mei­den. Bei der Viola sind Ak­zent auf der Zähl­zeit 1+ im Alla bre­ve-Takt und Über­bin­dung im Au­to­graph Ele­men­te, die keine Ana­lo­gie in die­sem Ab­schnitt haben und in der Erst­aus­ga­be zu­guns­ten einer Ach­tel-Be­we­gung ge­än­dert sind, die Ähn­lich­kei­ten mit vor­an­ge­gan­ge­nen Tak­ten auf­weist.

Die bei­den Ab­wei­chun­gen wer­fen meh­re­re Fra­gen auf: Stam­men die Va­ri­an­ten in Vio­li­ne 1 und Viola aus den ver­schol­le­nen Stim­men, wur­den also mög­li­cher­wei­se bei Auf­füh­run­gen von den Spie­lern be­wusst ge­än­dert? Viel­leicht sogar mit Bil­li­gung von Saint-Saëns, der zu­min­dest bei den ers­ten vier Auf­füh­run­gen nach­weis­lich als Pia­nist mit­be­tei­ligt war? Oder han­delt es sich um einen re­dak­tio­nel­len Ein­griff des Her­aus­ge­bers der pos­tu­men Aus­ga­be, der gemäß sei­nem mu­si­ka­li­schen Sach­ver­stand die Än­de­run­gen vor­ge­nom­men hat?

Poin­tiert ge­sagt: Wie soll sich hier das Fos­sil J’ai du bon tabac be­we­gen?

In den ver­füg­ba­ren Aus­ga­ben fin­den sich un­ter­schied­li­che Lö­sun­gen, Eu­len­burg zum Bei­spiel bringt die Ver­si­on der Erst­aus­ga­be, Breit­kopf die des Au­to­graphs. Eine ein­deu­ti­ge Ant­wort gibt es nicht, aber es spricht doch man­ches dafür, dass die Les­art des Au­to­graphs kein Ver­se­hen, son­dern ein be­wuss­tes Auf­bre­chen des ei­gent­lich zu er­war­ten­den Ab­laufs dar­stellt. Der Ak­zent bringt am Ende ein neues Ele­ment in die po­ly­pho­ne Auf­fä­che­rung ein, und die Ok­tav­ver­dop­pe­lung könn­te – quasi als Au­gen­zwin­kern des ex­zel­len­ten Ken­ners der Mu­sik­ge­schich­te, der Saint-Saëns zwei­fel­los war – als Indiz für eine nur noch in der Volks­mu­sik er­hal­te­ne, al­ter­tüm­li­che, sprich: fos­si­le Art des Mu­si­zie­rens ge­deu­tet wer­den. Daher hat Ernst-Gün­ter Hei­nemann, der Her­aus­ge­ber der Hen­le-Edi­tio­nen HN 939 (Stim­men) und HN 9939 (Stu­di­en-Edi­ti­on), im Haupt­text die Ver­si­on des Au­to­graphs bei­be­hal­ten, aber selbst­ver­ständ­lich die Ab­wei­chun­gen in den Be­mer­kun­gen do­ku­men­tiert.

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