Zum Thema Sergej Rachmaninow haben wir im Henle-Blog schon etliche Artikel veröffentlicht, doch in diesem Jahr darf ein Beitrag zu ihm ganz sicher nicht fehlen. Schließlich feiert der Komponist 2023 seinen 150. Geburtstag und steht daher bei uns ganz besonders im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zum Jubiläumsjahr werden wir nicht nur mehrere brandneue Rachmaninow-Urtextausgaben herausbringen (freuen Sie sich z. B. auf die Paganini-Rhapsodie und das 3. Klavierkonzert), sondern haben uns auch eine zusätzliche Überraschung überlegt…

Übrigens feiert auch das Editionsprojekt „Rachmaninow bei Henle“ schon bald einen runden Geburtstag: Vor fast 10 Jahren, im Januar 2014, erschienen unsere ersten Rachmaninow-Urtextausgaben, die sofort großen Anklang bei Pianistinnen und Pianisten auf der ganzen Welt fanden. Insbesondere die vielgeliebten und vielgespielten 24 Préludes (HN 1200) sowie die Études-Tableaux (HN 1202) mussten wir aufgrund der großen Nachfrage inzwischen schon mehrfach nachdrucken. Das hat uns ermutigt, anlässlich des Jubiläums eine kleine Überraschung für alle Rachmaninow-Fans vorzubereiten: im Sommer erscheinen sowohl die 24 Préludes als auch die Études-Tableaux zusätzlich in edlen leinengebundenen Varianten (HN 1520 und HN 1521).

Was uns als Urtext-Verlag besonders freut, ist, dass viele Musiker und Käufer unserer Ausgaben mit uns Lektoren in Kontakt treten, um uns auf fragliche Stellen hinzuweisen oder über mehrdeutige Lesarten zu diskutieren. Ganz selten findet sich so auch mal ein echter Druckfehler, den wir natürlich bei der nächsten Auflage sofort korrigieren. Gerade bei Rachmaninow aber ist die Frage nach ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ oft kaum zu beantworten, da seine schillernde und komplexe Harmonik mehrere Lösungen zulässt.

Ich möchte hier zwei Beispiele aus Rachmaninows Préludes vorstellen, auf die mich Pianisten nach dem Erscheinen der 1. Auflage hingewiesen haben. In beiden Fällen habe ich mich als Herausgeber dafür entschieden, nicht in den originalen Notentext einzugreifen, aber neue Fußnoten zu ergänzen, die jeweils auf die Problematik hinweisen und zu eigenem Nachdenken und Entscheiden ermutigen sollen.

Im ersten Fall war es kein geringerer als Boris Giltburg, der uns ein möglicherweise fehlendes Vorzeichen im es-moll-Prélude signalisierte. In Takt 23 ist der 1. Akkord folgendermaßen notiert (siehe gelbe Markierung):

Rachmaninow, Prélude es-moll op. 23 Nr. 9, Erstausgabe A. Gutheil 1903/04, T. 21–23

Die untere Note hat kein Vorzeichen und ist somit laut Generalvorzeichnung ein des2, was einen reinen b-moll-Akkord ergibt. Genauso steht es auch im Autograph, und daher auch in unserer Edition. Boris Giltburg vermutet hier aber ein Versehen des Komponisten (es kommt tatsächlich nicht selten vor, dass Rachmaninow Vorzeichen vergisst, weil er nicht mehr an die Tonartvorzeichnung denkt), und er plädiert hier stark für d2 statt des2, also für einen B-dur-Akkord anstelle der klanglich ungewöhnlichen modalen Auflösung nach b-moll. Weitere stichhaltige Gründe, die für d2 sprechen, sind die ähnlichen Stellen in T. 9/19 (ebenfalls mit d2), sowie in T. 23 das Warnvorzeichen vor der 5. Note der rechten Hand – wieso sollte Rachmaninow hier extra ein b-Vorzeichen notieren, wenn er nicht zuvor ein d im Sinn gehabt hätte?

Einige spätere Ausgaben haben daher tatsächlich stillschweigend ein Auflösezeichen vor der Note ergänzt, wie etwa diese sowjetische Edition von Pawel Lamm:

Es gibt allerdings auch gute Argumente gegen eine Änderung. So steht ein b-Warnvorzeichen in T. 23 auch vor der 4. Note ces2, ohne dass direkt vorher ein c gekommen wäre (in T. 22 steht zwar ein c2 auf Zählzeit 3, aber die linke Hand hat auf Zählzeit 4 bereits wieder ces1). Vielleicht sind beide Warnvorzeichen nur durch die Auflösung der 2. Note T. 23 verursacht. Außerdem ähnelt Takt 9 nur ungefähr dem Takt 23, ist aber keine wirkliche Parallelstelle; z. B. ist der Höhepunkt in T. 9 auf dem 1. Akkord, während in T. 23 die Phrase gewissermaßen „übers Ziel hinausschießt“ und erst auf Zählzeit 2 (dem des3!) kulminiert – man beachte auch die unterschiedliche Dynamik und Fortsetzung der jeweiligen Passage.

Daher habe ich die „salomonische“ Lösung einer Fußnote gewählt, die dem Spieler die Entscheidung einer Änderung selbst überlässt:

Rachmaninow, Prélude es-moll op. 23 Nr. 9, Neuausgabe G. Henle 2014, T. 21–23

Den zweiten Hinweis verdanke ich dem Pianisten Mark Sullivan aus Kalifornien. Er schrieb mir vor einiger Zeit zu einem möglicherweise fehlenden Vorzeichen im Prélude gis-moll op. 32 Nr. 12. Bereits im Zuge meiner Editionsarbeit war mir 2013 beim Quellenvergleich aufgefallen, dass in T. 18 auf der letzten Zählzeit der linken Hand sicher ein h gemeint sein muss, auch wenn im Autograph und in der Erstausgabe das Auflösezeichen fehlt (siehe im Notenbeispiel die grüne Markierung):

Rachmaninow, Prélude gis-moll op. 32 Nr. 12, Erstausgabe A. Gutheil 1910/11, T. 16–19

Abgesehen davon, dass der hier notierte his-moll-Akkord im Kontext klanglich sehr zweifelhaft wäre, zeigt das direkt darauffolgende H in der Sechzehntelfigur, dass es sich sicher nur um ein Versehen handelt. Daher habe ich in T. 18 ein Auflösezeichen ergänzt, das aber durch die Klammerung als Herausgeberzusatz gekennzeichnet ist:

Rachmaninow, Prélude gis-moll op. 32 Nr. 12, Neuausgabe G. Henle 2014, T. 16–19

Mark Sullivans plausible Vermutung ist nun, dass auch in T. 16 an der analogen Stelle ein Vorzeichen zu ergänzen ist (siehe gelbe Markierung), nämlich ein Kreuz vor dem fis1 (anstelle fisis1 wie zuvor). Diese Frage ist durch den musikalischen Kontext leider weniger eindeutig zu beantworten als im vorigen Fall. Das Zusammenprallen von (harmonischem) fisis1 in linker Hand und (melodisch-motivischem) fis2 /fis3 in rechter Hand gibt in jedem Fall noch keinen Grund zum Misstrauen, denn dies passiert auch in T. 18. Die ausdrücklichen Warnvorzeichen vor dem letzten Akkord der rechten Hand in T. 16 (diese Kreuze sind ja eigentlich nicht nötig) könnten sogar ein Hinweis auf genau diesen bewusst gewollten Querstand sein.

Ein starkes Argument für Sullivans These gibt allerdings Rachmaninow selbst in seiner eigenen Einspielung des gis-moll-Prélude – ich höre hier fis1:

Allerdings stammt diese Schallplattenaufnahme von 1921, entstand also über 10 Jahre nach Komposition des Stücks. Es ist bekannt, dass sich Rachmaninow in späteren Jahren bei der Interpretation eigener Werke kleine Freiheiten erlaubte und neue Varianten einbaute, bis hin zu vollständigen Revisionen (man denke an seine 2. Klaviersonate…). Es ist gut möglich, dass er zum Zeitpunkt der Komposition und der Erstausgabe noch fisis1 meinte und spielte. Daher habe ich hier im Zweifel für die Notation der Quelle entschieden und lediglich mit einer Fußnote auf das mögliche fis1 hingewiesen.

Welche Varianten würden Sie jeweils bevorzugen? Gibt es weitere Argumente pro oder contra Vorzeichen, oder was sagt Ihr musikalisches „Gefühl“? Schreiben Sie uns einen Kommentar!

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