Manch ein Henle-Fan, der sich in unserem Urtext-Katalog auskennt, wird wissen, dass einige Werke bei uns „doppelt“ erhältlich sind: Sowohl als Einzelausgabe als auch innerhalb eines Sammelbandes. Als Urtext-Verlag sind wir der Quellenüberlieferung verpflichtet, und daher geben wir im Normalfall Werke so heraus, wie die Komponisten sie nun einmal aus ihren Händen gegeben haben.

Sind die Stücke als Einzelwerke entstanden, erscheinen sie auch bei uns als Einzelausgaben (etwa die beiden Cellosonaten von Camille Saint-Saëns), sind sie vom Komponisten als größere Einheit konzipiert, folgen wir dieser Bündelung (etwa die in Kürze erscheinenden sechs „Haydn-Quartette“ von Mozart, siehe den vorigen Blog-Beitrag). Aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Denn als Musikverleger denken wir natürlich immer an die Praxis und die Bedürfnisse der Musiker. Es ist durchaus sinnvoll, Einzelwerke auch in größeren Einheiten anzubieten, wenn das den Wünschen der Musiker entgegenkommt. So wäre der Henle-Katalog etwa undenkbar ohne unsere beiden Sammelbände mit Beethovens 32 Klaviersonaten, eine Einheit, die vom Komponisten in dieser Form nie hergestellt wurde, die aber für alle Pianisten unverzichtbar ist, die diesen Meilenstein des Klavierrepertoires im Überblick auf dem Notenpult haben möchten. Umgekehrt lösen wir Überlieferungseinheiten dann auf, wenn ein Einzelwerk aus einem Gesamtzyklus so populär ist, dass Musiker nur dieses einzelne Stück kaufen möchten (etwa die Humoreske Nr. 7 aus Dvořáks Humoresken op. 101, siehe auch den Blog-Beitrag dazu). Wir lassen den Musikern damit ganz bewusst die Wahl, entweder zur preisgünstigen Einzelausgabe zu greifen oder zum Sammelband – Henle-Urtext erwerben sie in beiden Fällen!

Alexander Nikolajewitsch Skrjabin (1871–1915)

Aber nun zu Alexander Skrjabins Klaviersonaten. Die Moskauer Skrjabin-Expertin Valentina Rubcova gab in den Jahren 2001-2014 die separat entstandenen Sonaten Nr. 1–10 in Einzelausgaben heraus. Ein wahres Mammutprojekt, denn die vergleichsweise geringen Umfänge einer jeden Sonate stehen in keinem Verhältnis zur oftmals schwierigen Quellenlage und zum hochkomplexen Klaviersatz, der den klassischen Notensatz vor allem bei den späten Sonaten oft bis an die Grenzen des Machbaren treibt. Es lag nach Abschluss dieses Projektes nahe, den einzigartigen Kosmos dieser Sonaten, die den Bogen von der Spätromantik zur Moderne schlagen, auch in einem Sammelband anzubieten. Denn viele Pianisten werden diesen Zyklus als Ganzes in den Händen halten wollen. Und nun ist es soweit: Der Band HN 1331 wird in Kürze lieferbar sein!

Was bietet nun dieser Sammelband? Alles, was Sie auch in den Einzelausgaben finden, und mehr! Vorwort und Bemerkungen sind deckungsgleich (selbstverständlich als fortlaufende Texte neu montiert) und umrahmen den gut 200 Seiten starken Notenteil, der die Sonaten in chronologischer Reihenfolge anordnet. Wichtig war uns, Seitenumbruch und Wendestellen der Einzelausgaben auch im Sammelband beizubehalten, was bis auf wenige Ausnahmen glücklicherweise gut aufging. Nur an drei Stellen wäre es nötig gewesen, Leerseiten zwischen das Ende einer Sonate und die folgende Sonate einzubauen, um wieder mit der „richtigen“ Position (rechte bzw. linke Seite) beginnen zu können. Warum aber nicht aus der Not eine Tugend machen und diese Leerseiten mit Inhalten füllen, die dem Pianisten einen Mehrwert bieten?

So gibt unser Sammelband im Anschluss an die vierte Sonate das oft zitierte „Programm“ wieder, jenen Text, der die ekstatische Stimmung des Werkes einfängt und der nach Publikation der Sonate (1904) im Umfeld Skrjabins entstand. Skrjabin selbst schreibt in einem Brief aus dem Jahr 1907: „Die 4. Sonate hat einen Text; keinen gedruckten, er wurde nachträglich auf Grundlage der Musik zusammengestellt“. Dieser Text, der also vermutlich auf Skrjabin selbst zurückgeht, wurde allerdings erst 1948, lange nach seinem Tod gedruckt. Aus unserer Einzelausgabe HN 1110 haben wir ihn nun auch in den Sammelband übernommen, direkt gegenüber der letzten Notenseite der Sonate.

Vor der 6. Sonate haben wir auf der linken Seite eine Abbildung der autographen Stichvorlage platziert, die einen einmaligen Einblick in Skrjabins erstaunlich präzise und saubere Handschrift bietet.

Die Gegenüberstellung von Autograph und Urtextedition ist darüber hinaus eine Chance für Musiker, die beiden Notentexte einmal detailliert zu vergleichen (also unsere Arbeit – die der Herausgeber und Lektoren – nachzuvollziehen). Dem kundigen Auge erschließt sich recht schnell, dass Skrjabin so sorgfältig notierte, dass korrigierende Eingriffe so gut wie nicht nötig sind. Lediglich die Schreibung der Vortragsbezeichnungen musste behutsam korrigiert bzw. standardisiert werden. Und in T. 13/14 fehlen im Autograph in der linken Hand Bögen: ein Phrasierungsbogen sowie der Haltebogen Des–Des nach T. 14.

Skrjabins Autograph der 6. Sonate T. 13 f.

Henle Urtext der 6. Sonate T. 13 f.

Um zu erfahren, wo unsere Edition diese Bögen hernimmt, reicht ein Blick in den Kritischen Bericht, der Auskunft darüber gibt, dass diese Bögen tatsächlich sogar in zwei autographen Niederschriften sowie in der Erstausgabe fehlen, bei uns aber gemäß einer Nebenquelle (der Ausgabe des Skrjabin-Schülers Schiljajew) ergänzt wurden.

Einen ähnlichen Einblick bietet die Abbildungsseite neben dem Schluss der 8. Sonate.

Sie zeigt ebenfalls den Schluss dieser Sonate, und zwar so, wie er sich in der Erstausgabe präsentiert. Auch in diesem Fall ist es aufschlussreich, sich die Mühe zu machen, die beiden Notentexte zu vergleichen. Denn obwohl Skrjabin eine äußerst sauber geschriebene Stichvorlage an den Verlag sandte und obwohl er selbst die Erstausgabe Korrektur las, haben sich in den Druck doch Fehler eingeschlichen. So steht zu Beginn von T. 489 in der rechten Hand statt der Einzelnote fis3 die Sexte a2/fis3 und am Ende von T. 484 in der linken Hand als vorletzte Note c statt A.

Erstausgabe der 8. Sonate T. 489.

Henle Ausgabe der 8. Sonate T. 489.

 

 

 

 

 

 

 

Erstausgabe der 8. Sonate T. 494.

Henle Ausgabe der 8. Sonate T. 494.

 

 

 

 

 

 

 

Dass es sich bei diesen Noten tatsächlich um Fehler handelt, die unser Urtext korrigiert – darüber gibt wieder der Kritische Bericht Auskunft. Durch einen Abgleich mit dem Autograph gelang es der Herausgeberin beide Fehler der Erstausgabe zu korrigieren. Es zeigt sich einmal mehr: Der Blick in die Worttexte (Vorwort und Bemerkungen) unserer Urtextausgaben lohnt sich!

Ich hoffe, Sie sind neugierig geworden auf unseren Sammelband, der einen einzigartigen Einblick in die Welt des Klang-Mystikers Skrjabin bietet!

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