Im Jahr 2010 feierte die musikalische Welt den 200. Geburtstag des Komponisten Robert Schumann. Verlagsleiter Wolf-Dieter Seiffert widmete sich aus diesem Anlass in gut 25 Essays seinem Idol und einem der „Hausgötter“ des G. Henle Verlags. Alle 14 Tage erschienen lesenswerte Essays vornehmlich zu Schumann-Werken verschiedener Besetzung und Gattung, aber auch zahlreiche Interviews mit bedeutenden Schumann-Künstlern und -Herausgebern, weiterführenden Links etc. Auch ein persönlicher Brief direkt an Herrn Schumann findet sich. Wir meinen, diese Beiträge sind über ihren Anlass hinaus die Lektüre wert, zumal sie nicht streng wissenschaftlich, sondern in eher lockerem, journalistischem Ton verfasst wurden. Aber stöbern und schmökern Sie selbst!
Sehr geehrter Leser,
es ist soweit: Das Schumann-Forum im G. Henle Verlag hat Premiere. Was dürfen Sie erwarten?
Audio-Interviews
zu Werken von Robert Schumann, die ich eigens für das Schumann-Forum 2010 mit herausragenden Künstlerpersönlichkeiten geführt habe oder im Laufe des Jahres (in deutscher oder englischer Sprache) führen werde. Freuen Sie sich unter anderen auf Christian Gerhaher, David Geringas, András Schiff, Mitsuko Uchida, Edith Wiens ... - lassen Sie sich überraschen.
Exklusiv von den Künstlern für Sie signierte Schumann-CDs
Wenn Sie mein Schumann-Forum regelmäßig besuchen, werden Sie mit ein wenig Glück eine dieser CDs gewinnen können und mit einem bekannten Schumann-Lied jubeln:
Ich kann's nicht fassen, nicht glauben,
Es hat ein Traum mich berückt;
Hat Henle doch unter allen,
Mich Arme/n erhöht und beglückt?
Audio- und Text-Interviews, die wir mit unseren wissenschaftlichen Herausgebern führen.
Jeder Monat widmet sich einem speziellen Schumann-Thema. Unsere hoch spezialisierten Experten stellen Ihnen aktuell erschienene Schumann-Urtextausgaben des G. Henle Verlags vor.
Links in das World Wide Web,
extra für Sie ausgewählt.
Habe ich Sie neugierig gemacht? Alle 14 Tage präsentiere ich Ihnen ab sofort besondere Henle-Schumanniana. Am 1. und 15. Februar ist Schumanns Klavierkonzert dran. Im März geht es mit dem Thema Schumann/Chopin weiter. Ich freue mich sehr auf Ihren "Besuch".
Wenn Sie mir schreiben wollen - auf Deutsch oder in Englisch - , dann bitte gerne jederzeit an:
» davidsbuendler@henle.com
Mit besten Grüßen
Dr. Wolf-Dieter Seiffert
Geschäftsführer
1. Februar 2010
Mozart hat weit über 20 Klavierkonzerte geschrieben, Beethoven immerhin noch fünf. Schumann „nur“ eines – aber was für eins! Kein Pianist, kein Musikfreund, der es nicht über die Maßen liebt.
In wenigen Wochen erscheint Robert Schumanns Klavierkonzert in einer brandneuen Urtextausgabe im G. Henle Verlag. Keine Geringere als Mitsuko Uchida war zu unserer größten Freude bereit, als künstlerische Beraterin zur Seite zu stehen und ihre Fingersatzbezeichnungen der Ausgabe beizusteuern.
Dame Uchida ist schon seit langer Zeit mit unserem Hause eng verbunden, doch bislang konnten wir sie nie von einer echten Zusammenarbeit überzeugen. Mit Opus 54 hat sich das geändert. Wir hoffen, Sie sind vom Ergebnis genau so begeistert, wie wir es sind.
Was mir Dame Mitsuko Uchida zur gemeinsamen Urtextausgabe am 27. Januar 2010 am Telefon gesagt hat, hören Sie hier:
Welch persönlich-inniges Verhältnis diese außerordentliche Künstlerin zu Schumanns außerordentlichem Werk hat, verrät Dame Uchida (in englischer Sprache) hier:
Und hier der YouTube-Ausschitt ihres Schumann-Konzerts mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle vom 13. September 2009:
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Partitur und Orchestermaterial sind selbstverständlich ebenfalls im Urtext auf dem Markt, und zwar in Koproduktion mit dem traditionsreichen » Schumann-Verlag Breitkopf & Härtel.
Im G. Henle Verlag ist es Tradition seit unserer Gründung, dass unsere musikwissenschaftlichen Lektoren nicht nur externe Herausgeber „betreuen“, sondern auch eigene Editionen vorlegen. Dem Klavierkonzert hat sich ein ausgewiesener Schumann-Spezialist sehr gründlich angenommen, mein Kollege im Verlag, Herr Dr. Peter Jost.
Ich habe mit Peter Jost am 25. Januar 2010 ein Gespräch geführt.
Er berichtet darin, welche Erfahrungen er während seiner Arbeit mit den musikalischen Quellen gemacht hat, welche Probleme er zu bewältigen hatte und warum unser beider Meinung nach, die Henle-Ausgabe eine Referenz dieses Werks darstellen wird.
Hier können Sie das ganze Gespräch, das auch einige Abbildungen von Schumanns Notenhandschrift einbezieht, lesen:
» Interview mit Dr. Peter Jost (PDF)
Für alle, die es noch genauer wissen wollen, bietet sich das Vorwort der Henle Ausgabe an. Sie können die Vorworte (und sogar die „Kritischen Berichte“) sämtlicher Henle-Ausgaben kostenlos im Internet lesen und downloaden. Hier ist der Link zum Schumann-Konzert:
» Schumann op. 54
Im Internet fand ich einen sehr gut geschriebenen Artikel zu Schumanns Klavierkonzert (auf Deutsch) von Thomas Pehlken, der sich auf der Homepage von www.Klassik.com befindet.
» Klassik.com, 100 Meisterwerke“, zu Schumann op. 54
Zum guten Schluss noch etwas zum Schmunzeln:
Zum Schumann-Konzert kursiert seit Jahren folgende lustige Begebenheit: Daniel Barenboim und Zubin Mehta, die eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet, führen mit dem Israel Philharmonic Orchestra op. 54 auf. Es ist sehr heiß und Barenboim bittet Mehta, mit dem für den Pianisten kniffligen Anfang so lange zu warten, bis er das Zeichen dazu gibt. Doch Mehta kommt auf die Bühne und gibt sofort mit einem Wink den Einsatz:
Barenboim bekommt nur mit Mühe die Anfangsakkorde hin. Kaum ist der Schlussakkord des ersten Satzes erklungen, greift sich Barenboim scheinbar wegen der Hitze ein Taschentuch. „Quid pro quo“: Er lässt das Tuch sofort fallen und beginnt völlig unangekündigt mit dem langsamen Satz, was wiederum Mehta verständlicher Weise in größte Schwierigkeiten bringt:
Zum Glück kennt das Israel Philharmonic Orchestra Schumanns Klavierkonzert gut genug, um auch ohne Dirigenten klar zu kommen.
Sie, meine verehrten Besucher des Schumann-Forums 2010, haben wahrscheinlich Ihre besondere Lieblingsaufnahme des Schumannschen Klavierkonzerts op. 54.
Jpc, der große deutsche CD-Versender, listet derzeit über 200 (!) erhältliche
» D-Aufnahmen von Robert Schumanns Klavierkonzert
Damit kommt das Stück wohl unter die ewigen Top-10 der Klassik.
Meine derzeitigen persönlichen Favoriten sind übrigens:
Murray Perahias bestimmt schon über 20 Jahre alte, farbenprächtige und nuancenreiche Live-Einspielung mit dem unter Colin Davis’ Leitung fantastisch aufspielenden Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunk: Sony 518810-2 (auch seine jüngere Einspielung mit Claudio Abbado und den Berliner Philharmonikern hat freilich ganz große Klasse).
Christian Zacharias mit dem unter seiner Leitung herrlich kammermusikalisch-luzide musizierenden Kammerorchester Lausanne: MDG 340 1033-2.
Und schließlich der ungemein „stimmig“ spielende und den besonderen Schumann-Ton sicher treffende Lars Vogt mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter der fulminanten Leitung von Simon Rattle: EMI 7-54746-2.
Nun aber soll die Vorstellung unserer neuen Urtextausgabe des Schumannschen Klavierkonzerts fortgesetzt werden:
Wir bieten unserer Meinung nach nicht nur etwas ganz Besonderes mit den Fingersätzen von Mitsuko Uchida zu Schumanns Solostimme, sondern auch einen sehr gut spielbaren und ebenso klingenden Klavierauszug des Orchesterparts. Diesen Klavierauszug hat Johannes Umbreit, Dozent an der Münchener Musikhochschule, verfasst.
Johannes Umbreits Name taucht nicht zufällig in sehr vielen Henle-Ausgaben auf, wenn es um Klavierauszüge großer Konzerte geht. Denn wir halten ihn für einen Meister in seinem Fach. Unsere Kunden reagierten bisher nur mit höchstem Lob auf seine Klavierauszüge von Bach bis Bruch, Stamitz bis Chausson.
Meine Kollegin, Frau Dr. Annette Oppermann, die im Henle Verlag die Urtextausgabe des Schumann-Konzertes betreut hat, sprach mit Herrn Umbreit über die besonderen Herausforderungen dieses Klavierauszugs und die besonderen Vorzüge, die seiner Meinung nach die Henle-Ausgabe vor anderen hat. Den leicht gekürzten Mitschnitt (in deutscher Sprache), hören Sie hier:
Einer, der das Schumann-Konzert schon sehr häufig und mit den berühmtesten Pianisten aufgeführt hat, ist Ivor Bolton, derzeit Chefdirigent des Mozarteum-Orchesters Salzburg. Ich hatte das große Vergnügen, ihn während der „Mozart-Woche“ Ende Januar 2010 in Salzburg zu Schumanns Klavierkonzert aus der Sicht eines Dirigenten zu befragen.
Ivor Bolton ist nicht nur ein großartiger Musiker, sondern auch ein ebensolcher Gesprächspartner. Ich lernte sehr vieles von ihm, nicht nur zu Opus 54. Hier können Sie den stark gekürzten Mitschnitt (in englischer Sprache) anhören:
März 2010
Liebe Leserinnen und Leser des „Schumann-Forum 2010“,
mir fallen spontan nur drei Jahreszahlen ein, in denen gleich zwei Komponistengenies das Licht der Welt erblickten: 1685 (Bach und Händel), 1813 (Wagner und Verdi) und natürlich 1810. Denn vor 200 Jahren wurde nicht nur Robert Schumann geboren, sondern auch Frédéric Chopin. Und weil Chopin behauptete, am 1. März 1810 geboren worden zu sein (seine Taufurkunde sagt allerdings 22. Februar), soll der Monat März im „Schumann-Forum 2010“ überwiegend diesem ganz Großen der Musikgeschichte gewidmet sein.
I asked some exceptional pianists of our time about their personal feelings towards Schumann and Chopin. The answers, can be found here: "9 questions for ..."
Robert Schumann was significantly quick to realize the artistic standing of his peer, the aspiring composer recently relocated from Poland to Paris:
Robert Schumann erkannte bezeichnenderweise sofort den künstlerischen Rang seines gleichaltrigen, aus Polen nach Paris übersiedelten Komponisten-„Kollegen“:
„Hut ab, Ihr Herren, ein Genie!“
schreibt er in seiner Besprechung (1831) der "Don Giovanni"-Variationen op. 2. Einige Jahre später (1835 und 1836) begegnen sich die beiden dann mehrmals privat. Wenig später komponiert Schumann als erster ein musikalisches Porträt Chopins (im 1837 komponierten Klavierzyklus „Carnaval“) und ein Jahr später widmet er ihm gar seine ganzen „Kreisleriana“. Chopin wiederum widmet seine zweite Ballade (1839) Robert Schumann.
Wer sich ausführlicher und konkreter über diese Jahre der Annäherung der beiden Genies, geboren 1810, Schumann und Chopin, informieren möchte, wer überhaupt zuverlässige Informationen zu Chopins Leben und Werk im Internet sucht, der sollte auf die ausgezeichnete » Homepage des Warschauer „Fryderyk Chopin Instituts“ gehen. Sie ist in polnischer und englischer Sprache verfasst (zu Schumann siehe den fabelhaften „Kalender“, darin wird man fündig unter dem 27.9.1835, dem 6.10.1835 und in den Tagen zwischen dem 11.—14.9.1836).
Chopin ist im Katalog des G. Henle Verlags seit unserer Gründung ein Zentralgestirn. Nahezu das gesamte Klavierwerk bieten wir seit den 1970er-Jahren im Urtext an. Unser Herausgeber, Dr. Ewald Zimmermann, erhielt für seine Verdienste um den korrekten Chopin-Notentext unter anderem den polnischen Verdienstorden für Kultur verliehen.
Inzwischen ist natürlich sehr viel geforscht worden zur Handschrift Chopins, zur komplexen Überlieferung seiner Werke und zu allerlei philologischen Feinheiten. In der Ausgabe vom 15. März des „Schumann-Forum 2010“ werde ich Ihnen zu diesem wichtigen Thema, wie ich hoffe, Lesenswertes bieten. Auch werde ich in 14 Tagen eine ganz besondere Neuerscheinung des G. Henle Verlags aus Anlass des 200. Geburtstags von Chopin vorstellen.
Doch heute soll im Zentrum unseres Interesses eine echte Chopin-Rarität stehen:
Der G. Henle Verlag hat nämlich erst vor wenigen Wochen ein vermutlich nur wenigen Musikern bekanntes Klavierwerk Chopins veröffentlicht. Nicht etwa ein kleines Gelegenheitsstückchen; nein, eine veritable, große viersätzige Klaviersonate.
G. Henle Verlag „proudly presents“ – die erste Urtextausgabe der Klaviersonate in c-moll op. 4 von Frédéric Chopin:
G. Henle Verlag proudly presents the first Urtext edition of Frédéric Chopin’s first Piano Sonata in c minor, op. 4:
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Wir im Henle Verlag sind überzeugt davon, dass es dieses frühe Gesellenstück des etwa 18-jährigen Frédéric verdient hat, endlich aus seinem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Vielleicht bedurfte es einer guten Urtextausgabe mit instruktiven Fingersatz-Beigaben, um nun den Weg in die Hochschulen und auf die Konzertbühnen zu finden (denn für Anfänger und bloße Liebhaber ist die Sonate nichts – sie ist technisch und musikalisch erstaunlich herausfordernd!).
Mein Kollege im Lektorat, Dr. Norbert Müllemann, hat diese Sonate zusammen mit Sarah Gerbracht für den G. Henle Verlag wissenschaftlich ediert. Er unterhielt sich vergangene Woche mit unserem Fingersetzer dieser Ausgabe, dem Pianisten Andreas Groethuysen, über das Stück. Herr Groethuysen hat sich sehr intensiv mit dem Werk auseinandergesetzt und er behauptet in diesem Gespräch:
„Chopin war ein Genie – eben auch schon als Achtzehnjähriger!“
Und: „Jede Neuausgabe bei Henle ist für die Musiker ein Signal“.
Das ganze überaus instruktive Gespräch (in deutscher Sprache) hören Sie hier; es beginnt mit einem kurzen Ausschnitt des Sonatenanfangs:
Dr. Norbert Müllemann and Andreas Groethuysen
Vor kurzem las ich, Chopins Lieblingsfarbe sei „Taubenblau“ gewesen. Voilà – dann hätten ihm Henle-Noten allein schon wegen unsres Umschlags gut gefallen.
Was aber Chopin sicherlich noch viel wichtiger war, ist der korrekte Druck seiner Werke. Zwar führte er selbst, wie man zuverlässig weiß, seine Werke niemals völlig gleich auf und brachte quasi improvisierend immer neue Lebendigkeit in seine Kompositionen. Wenn es aber an die Drucklegung ging, waren ihm alle Details äußerst wichtig, was wir vor allem seinen akribischen Notenhandschriften, den von ihm korrigierten Abschriften und auch der Korrespondenz mit den Verlegern entnehmen können.
Warum wir Editoren es dennoch so schwer haben mit Chopin, liegt daran, dass er seine Werke nicht in dem e i n e n verbindlichen Druck überlieferte, sondern sie meist in Frankreich, England und Deutschland bei verschiedenen Verlegern gleichzeitig herausbrachte.
Und diese Verleger erhielten oft genug handschriftliche Vorlagen zum Notenstich, die voneinander abwichen. Abgesehen davon machen freilich die Notenstecher auch Fehler, die Chopin oder seine Helfer nicht erkannten, so dass es in den meisten Fällen drei oder mehr autorisierte Drucke eines Chopin-Werks gibt, die leider im Detail voneinander abweichen. Was also tun?
In solchen Fällen muss man große Erfahrung mit der Überlieferung der Werke Chopins haben, um richtige Entscheidungen zu treffen. Sollten Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, einmal selbst einen konkreten Eindruck solcher Druckausgaben verschaffen wollen, dann empfehle ich Ihnen den Besuch folgenden Links. Es handelt sich um das fantastische Angebot von » „CFEO“ (Chopin’s First Editions Online), in dem sie in all diesen frühen Drucken nach Lust und Laune blättern können.
An dieser Stelle muss freilich auch auf ein erst vor wenigen Tagen erschienenes Standardwerk zur Chopin-Überlieferung hingewiesen werden. Ein Muss für den Chopin-Enthusiasten und jeden bibliographisch interessierten Musiker und Musikwissenschaftler:
» Christophe Grabowski, John Rink: Annotated Catalogue of Chopin’s First Editions. Cambridge, (Cambridge University Press) 2010
Auf drei weitere digitale Angebote sei an dieser Stelle wenigstens hingewiesen, die sich womöglich noch gar nicht so recht herumgesprochen haben:
- Zum einen arbeitet die „University of London, Royal Holloway“ unter Professor Dr. John Rink an einer digitalen Darstellung und Kommentierung sämtlicher wichtiger Chopin-Quellen (Handschriften und Drucke). Dieses einzigartige Projekt wird in Kürze, wie man hört, wesentlich mehr Konkretes bieten, als die beiden derzeit als Prototyp vorgestellten Préludes aus Opus 28:
» www.ocve.org.uk - Zum zweiten plant das „Fryderyk Chopin Institut“ in Warschau im Rahmen der „National Digital Library“ eine umfassende Digitalisierung von Chopins Handschriften, seiner Korrespondenz und anderer Memorabilia; diese Chopin-Manuskripte wurden kürzlich in das » „Memory of the World“-Programm der Unesco aufgenommen. Ich empfehle also allen Chopin-Fans, künftig öfter mal auf folgende Homepage zu gehen, um zu sehen, ob und wann sich etwas tut:
» www.chopin.nifc.pl - Und zum dritten kann man sich Frédéric Chopin auch über eine gut gemachte, umfassend informierende multimediale Chopin-Enzyklopädie nähern (in polnischer und englischer Sprache):
» www.chopin.pl
Für einen Urtext-Verlag ist es Verpflichtung und Selbstverständnis, die Werke der Komponisten so korrekt wie nur irgend möglich wiederzugeben. Das ist ein hoher, im Falle Chopins nur mit sehr viel Aufwand zu erreichender Anspruch. Aber wir im G. Henle Verlag stellen uns dieser Verpflichtung.
Seit einigen Jahren verstärkt der Musikwissenschaftler Dr. Norbert Müllemann unser Lektoren-Team als fester Mitarbeiter. Er hat eine viel beachtete Doktorarbeit über Chopins frühe Handschriften geschrieben. Im Laufe der kommenden Jahre wird er Schritt um Schritt die Urtextausgaben von Chopin im Henle Verlag nochmals gewissenhaft überprüfen und letztlich neu herausgeben. Die » „Préludes“ und die » „Balladen“ sind bereits heraus. Die große Polonaise op. 53 wird im Laufe diesen Jahres als nächste Chopin-Revision bei Henle folgen.
Dr. Norbert Müllemann und Dr. Wolf-Dieter Seiffert
Ich führte am 4. März 2010 ein Gespräch mit Herrn Dr. Müllemann und gebe es hier in zwei Teilen wieder:
» den ersten Teil des Gesprächs in gedruckter Form (in deutsch und englisch); hier sprechen wir über die Herausforderungen des Philologen im Umgang mit Chopin-Quellen.
... den zweiten Teil des Gesprächs als Audio-Datei (auf deutsch); hier befrage ich Herrn Müllemann zu seinen Eindrücken zur Situation der Chopin-Forschung, die er gerade in Warschau gewonnen hat. Denn er besuchte Anfang März den internationalen Chopin-Kongress und hielt dort auch einen Vortrag:
Und nun, meine verehrten Leserinnen und Leser des „Schumann-Forum 2010“ wird es höchste Zeit, sich allmählich wieder unserem eigentlichen Geburtstagskind, nämlich Robert Schumann, zuzuwenden.
Die Brücke von Chopin zu Schumann bildet aber eine wunderbare Neuerscheinung des G. Henle Verlags aus Anlass des Chopin-Jahres 2010.
Chopins eigene Handschrift seiner Polonaise in As-dur op. 53. Diese Handschrift trägt alle charakteristischen Züge des reifen Meisters und ist eine reine Augenweide. Das Original liegt in der Pierpont Morgan Library, New York.
Natürlich ist unser gedrucktes Faksimile weitaus schärfer und enthält auch noch einen wissenschaftlichen Kommentar. In diesem können Sie auch nachlesen, warum Opus 53 eine Brücke von Chopin zu Schumann bildet: Clara Schumann war nämlich einst stolze Besitzerin dieser Handschrift Chopins. Sie schätzte das Werk auch ungemein und nahm es als erste und einzige Polonaise in ihr Repertoire auf.
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April 2010
Welch ein Kosmos: Robert Schumanns Werke für Klavier!
Ich gebe es gerne und an dieser Stelle zu: Ich bewundere Schumanns Klavierschaffen wie kaum ein zweites. Dieser Musik zuzuhören (oder auch sie – in meinem Falle – dilettantisch am Klavier zu spielen) bringt mich sofort in eine Art Hochstimmung, in eine positive Aufregung. Seit vielen Jahren befasse ich mich mit Schumanns Klavierwerk und ich entdecke immer neue Facetten. Vor diesem Œuvre steht man staunend mit offenem Mund (und offenen Ohren) wie einer, der sich an den Sternen des Nachthimmels nicht sattsehen kann. Robert Schumanns Werke für Klavier: Ein musikalischer Kosmos, der seinesgleichen sucht.
Nicht zuletzt deshalb habe ich dieses „Schumann-Forum 2010“ zu schreiben begonnen. Ich will mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, diese Liebe zu Schumanns Werken teilen und Ihnen im weiteren Verlauf des Jahres dazu einiges an Informationen und Unterhaltung bieten. Der G. Henle Verlag hat hier, meine ich, für den ernsthaft an Musik Interessierten wirklich einiges, auch bisher Unbekanntes, zu bieten.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum ich diese Art „Schumann-Blog“ im „Schumann-Jahr 2010“ begründet habe. Ich weiß, dass viele Musikkenner Schumanns C-dur-Fantasie op. 17 lieben, seine „Kreisleriana“ op. 16 über die Maßen schätzen und sich freuen, wenn einmal mehr der „Carnaval“ op. 9 auf dem Programm eines Pianisten steht. Schumann hat aber viel, viel mehr für das Klavier komponiert, und das meiste ist auf demselben Niveau wie die gerade genannten Stücke. Und diese Werke kennen viel zu wenige Musikfreunde.
Selbst Pianisten bewegen sich immer wieder auf den ausgetretenen Pfaden – ich weiß, es sind wundervolle Pfade! Es ist genau so, wie es mir der große (Schumann-) Pianist András Schiff anvertraut hat: Neben einigen oft und gerne gespielten Werken wird „der Großteil der Werkgruppe »Klaviermusik« von den Pianisten stiefmütterlich behandelt“ (Sie können den ganzen Text von András Schiff » HIER lesen.)
Als Verleger des großen Klavierrepertoires habe ich einen ziemlich guten Überblick über das Interesse der Pianisten – weltweit. Das Jubiläumsjahr 2010 lässt ja nun die beiden Klavier-Giganten des 19. Jahrhunderts Chopin und Schumann gewissermaßen in Konkurrenz treten. Ich weiß heute schon, April 2010, wie es ausgehen wird: Chopin wird Schumann hinsichtlich der Absatzzahlen mit deutlichem Abstand überflügeln – weltweit.
Ich werde Ihnen deshalb im Laufe der nächsten Monate verschiedene Klavierwerke Schumanns vorstellen und auch CD-Aufnahmen vergleichen und dazu empfehlen. Die etwas weniger bekannten Stücke sollen dabei im Vordergrund stehen, aber auch die großen „Schlachtrösser“ sollen nicht zu kurz kommen. Auch werde ich mit einigen Pianisten extra für unser Forum Interviews führen, die derzeit Schumann aufnehmen oder deren CDs gerade erschienen sind oder bald erscheinen werden.
Erst vor wenigen Tagen traf ich die wunderbare Angela Hewitt. Sie wird in der zweiten Jahreshälfte ihre zweite Schumann-CD aufnehmen (u. a. mit den „Davidsbündler-Tänzen“ und den „Waldszenen“). Sie finden unser Interview als Audio-Datei hier ab dem 15. April, dazu wird es (für die schnellsten von Ihnen) drei von Frau Hewitt signierte Schumann-CDs zu gewinnen geben.
Heute aber erst einmal nackte Zahlen, die für sich allein schon zu beeindrucken wissen: Schumann schrieb 38 vollständige Werke für Klavier solo (36 davon mit Opuszahl). Da wir schon seit Jahrzehnten sehr viel Schumann, erst seit heute (April 2010) aber das gesamte Klavierwerk Schumanns in Urtextausgaben anbieten, gibt es im G. Henle Verlag ab sofort 38 einzelne Schumann-Ausgaben.
Dazu kommen noch die brandneuen Sammelbände: alle Schumann-Werke in sechs Bänden entweder in taubenblaue Broschur oder in edles hellblaues Leinen gebunden sowie die sechs im Format verkleinerten Bände der wohlfeilen „Studien-Edition“. Alles zusammen also 56 Bände. (Kenner freuen sich freilich über diese Schumann-Zahl.)
Ich habe vor ein paar Tagen einmal alle diese Schumann-Notenausgaben auf unsere Verlagstreppe in den ersten Stock aufstellen lassen und dann folgendes Foto geschossen.
Das sind zusammengenommen etwa 0,60 Regalmeter, hintereinander gelegt eine Reihe von gut 17 Metern, die insgesamt knapp 25 Kilogramm wiegen. Was aber den Musiker mehr interessiert: Es sind genau 1.216 Notenseiten im berühmten Henle-Notenstich, und wenn man alles hintereinander wegspielen würde dauert das ca. 15 Stunden.
Die wesentlichen bibliographischen Daten zusammen mit den von mir ermittelten Aufführungszeiten zu jedem Opus findet man » HIER.
Sie haben die Möglichkeit, sich jederzeit intensiver mit diesen Ausgaben zu befassen, ohne Sie sofort erwerben zu müssen. In der linken Spalte dieser Homepage-Seite unter „Schumann-Ausgaben“ gehen Sie dazu in unsere Datenbank. Jeder Schumann-Titel (wie übrigens der gesamte Henle-Katalog) wird darin separat vorgestellt, es werden Auswahlseiten gezeigt, hier und da Pressemitteilungen zitiert und vor allem jedes einzelne Vorwort sowie der gesamte „Kritische Bericht“ komplett zum Download angeboten.
Damit bieten wir ein umfassendes und topaktuelles Kompendium zu Schumanns Klavierwerk; und das Entscheidende: auf wissenschaftlich gesichertem Boden. Nicht ohne Stolz darf ich behaupten, dass wir damit dem Schumann-Freund etwas Einmaliges bieten.
Natürlich sollen Ihnen diese vielfältigen Online-Angebote auch Lust darauf machen, die Notenausgaben bei Ihrem Musikalienhändler zu erwerben.
Stolz bin ich aber auch auf meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im G. Henle Verlag. Sie haben es geschafft, pünktlich zur Internationalen Musikmesse in Frankfurt (24.-27. März 2010) alle diese neuen Schumann-Ausgaben im Henle-Urtext herauszubringen. Das war eine beachtliche Kraftanstrengung und wir alle sind auch ein bisschen erschöpft und glücklich, das Unmögliche geschafft zu haben.
Nun aber soll der wissenschaftliche Herausgeber sämtlicher Schumann-Bände zu Wort kommen. Dr. Ernst Herttrich hat sich vor vielen Jahren an die herkulische Arbeit gemacht, Opus für Opus Schumanns Klavierwerk für den G. Henle Verlag komplett neu herauszugeben. Ich darf an dieser Stelle nochmals meinen Dank für diese großartige Leistung zum Ausdruck bringen. Wir haben bis nach München den Stein gehört, der Herrn Herttrich in Berlin vom Herzen fiel, als er vom glücklichen Abschluss, perfekt zur Musikmesse, erfuhr.
Dr. Ernst Herttrich
Ich habe ein langes Gespräch mit Dr. Herttrich über seine wissenschaftliche Herausgebertätigkeit und über alles, was die G. Henle-Ausgabe gegenüber früheren Zeiten Neues bringt, gesprochen. Wir bringen Ihnen eine Mitschrift dieses Interviews in zwei Teilen (in Deutsch und Englisch). Den ersten Teil finden Sie » HIER. Im zweiten und letzten Teil geht Herr Herttrich insbesondere auf einzelne Schumann-Werke ein, die in zwei voneinander abweichenden Fassungen überliefert sind. In den meisten Fällen gibt die neue Henle-Ausgabe auch beide Fassungen vollständig wieder. Daraus ergeben sich für den Pianisten und die Zuhörer hochinteressante Aspekte. Welche? Lesen Sie HIER !
Dass unsere sechsbändige neue Schumann-Ausgabe mit allen, wirklich a l l e n , Klavierwerken Schumanns bereits für erhebliches Aufsehen in der Pianistenwelt hervorgerufen hat, erkennen wir unter anderem an der Nachfrage, nicht zuletzt während der Internationalen Musikmesse Frankfurt, die Ende März zu Ende gegangen ist. Herr Dr. Norbert Gertsch, unser Programmleiter und Hauptverantwortlicher für dieses zielgenau abgeschlossene Mammutprojekt, ist zu Recht stolz auf seine Kollegen in Lektorat, Herstellung und Vertrieb. Ich bat ihn vor das Mikrophon, damit er den Leserinnen und Lesern des „Schumann-Forum 2010“ erläutert, warum unserer Meinung nach diese Schumann-Ausgaben alle bisherigen im G. Henle Verlag, aber auch alle übrigen auf dem Weltmarkt befindlichen Schumann-Ausgaben deutlich überflügeln.
oder das geschrieben Gesprächsprotokoll nachlesen. Ich habe letzteres angefertigt (deutsch und englisch), weil mir die Informationen von Dr. Gertsch vor allem für Musiker wichtig zu sein scheinen: Gesprächsprotokoll
Angela Hewitt und Dr. Wolf-Dieter Seiffert
Vor wenigen Tagen traf ich die fabelhafte kanadische Pianistin Angela Hewitt, „Artist of the Year 2006“ (Gramophone Magazin) und „2010 Instrumentalist of the Year” (MIDEM Classical Awards). In ihrem » Homepage-Tagebuch schreibt sie unter dem 6. November 2009: “I was never so happy as when playing an all-Schumann programme and I think that is really true. I adore his music and it gives me the chance to say so much.”
Wahrlich Grund genug, Miss Hewitt für unser Schumann-Forum 2010 (in englischer Sprache) zu interviewen.
Hören Sie hier, warum sich Angela Hewitt manchmal gerne vorstellt, Clara Schumann zu sein ... und vieles mehr:
Bald wird Frau Hewitt ihre zweite Schumann-CD aufnehmen, die dann wohl im Jahr 2011 erscheinen wird. Ihre 2007 erschienene erste Schumann-CD mit der ersten Klaviersonate op. 11 und der B-dur-Humoreske op. 20 erfuhr zu Recht höchste Anerkennung. So schrieb zum Beispiel Attila Csampai: „Jetzt hat die sensible Klavierpoetin aus Toronto (endlich) die Türe zur deutschen Romantik geöffnet und mit zwei nicht so populären frühen Arbeiten Schumanns ein in jeder Hinsicht perfektes Dokument ihrer pianistischen Extraklasse und ihres hochentwickelten Klangsinns abgeliefert“.
June 15, 2010
Ein heißes Eisen, ich weiß! Viele Musiker wollen gar nichts von Metronomangaben wissen, selbst wenn diese vom Komponisten vorgeschrieben sind. Wunderbar pointiert brachte das der große Dirigent Sergiu Celibidache zum Ausdruck:
„Tempo ist nicht zu definieren. Tempo hat keine eigene Existenz, es
kann also weder falsch noch richtig sein.
Was die Welt überhaupt noch nicht verstanden hat: Tempo hat nichts mit Geschwindigkeit zu tun [...]. Es gibt nicht ein einziges Tempo, das Sie von Berlin nach London mitnehmen können [...] Metronomangabe ,92’. Was ist 92? [...] Eine Idiotie! Denn jeder Saal, jedes Stück, jeder Satz hat ein eigenes, absolutes Tempo, was diese Situation – nicht eine andere – wiedergibt.“
(aus: Stenographische Umarmung. Sergiu Celibidache beim Wort genommen, Con Brio Verlag 2002).
Nun gilt aber zweifellos, dass der Charakter eines Stücks ganz wesentlich von seiner prinzipiellen Temponahme geprägt wird, ungeachtet des Aufführungsortes. Ein flüssigeres Grundtempo wirkt nun einmal anders als ein stockendes. Deshalb ist die heute im Schumann-Forum 2010 angesprochene Thematik für Musiker von besonderem Interesse.
Als Urtext-Verlag halten wir die originalen Metronomangaben für unbedingt wichtig und mitteilenswert, weshalb diese in unseren Notenausgaben auch sämtlich wiedergegeben werden. Dankenswerter Weise hat uns die Robert-Schumann-Forschungsstelle e. V. Düsseldorf sämtliche Metronomangaben Schumanns in einer sehr nützlichen Tabelle zusammengefasst (alle Opuszahlen, die in der Liste fehlen, wurden von Schumann nicht mit Metronomangaben versehen):
Schumanns Metronomangaben sind mindestens so umstritten in ihrer Gültigkeit und Verbindlichkeit, wie diejenigen Beethovens. Vieles erscheint uns extrem zu schnell, vieles wiederum viel zu langsam. Ich bin der festen Überzeugung, dass es sich in jedem Falle lohnt, diese Angaben nicht zu ignorieren, sondern sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Sie sind eine Chance, kein Ärgernis (wenn man danach immer noch in deutlich anderem Grundtempo als von Schumann vorgeschrieben, spielt, dann ist das wenigstens ein bewusster Akt).
Für das Schumann-Forum führte ich ein Telefoninterview mit einem der besten Schumann-Kenner, mit Dr. Michael Struck (Musikwissenschaftler, Pianist und „Schumann-Preisträger 2009“ der Stadt Zwickau). Dr. Michael Struck Er hat sich intensiv der Thematik der Metronomangaben bei Schumann gewidmet und dazu in den letzten Jahren einige viel beachtete Aufsätze verfasst.
Dr. Struck regt an, dass sich Musiker viel ernsthafter mit den Schumannschen Metronomangaben befassen sollten, denn sie sind weder falsch noch unspielbar. Schumann (und seine Zeit) versteht unter „Langsam“ ein deutlich flüssigeres, bewegteres Tempo, als wir heutigen. Man beraubt sich, so Struck, als Musiker der Chance, eine aufregend neue Erfahrung zu machen, würde man die deutlich frischeren Tempovorstellungen Schumanns ignorieren. Im Telefoninterview (auf Deutsch) stelle ich Dr. Struck die entscheidenden, prinzipiellen Fragen zur Korrektheit und Echtheit der Schumannschen Metronomangaben.
Sie, liebe Leser/innen, können eine Zusammenfassung dieses Interviews (deutsch/englisch) auch gerne hier nachlesen.
Michael Struck hat für den Norddeutschen Rundfunk (NDR) eine Sendung (Erstausstrahlung am 11. November 2006) zur Thematik der Metronomangaben bei Schumann produziert. Dabei geht er auch ausführlich auf die „Kinderszenen“ ein (und spielt sie im Anschluss in den originalen Tempi). Mit freundlicher Genehmigung des NDR darf ich Ihnen hier einen etwa 11 Minuten dauernden Ausschnitt aus dieser sehr hörenswerten Sendung vorführen.
1. Mai 2010
Im wunderschönen Monat Mai, liebe Leserinnen und Leser, wird es konkret. Ich will Ihnen zwei Klavierstücke Schumanns vorstellen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: „Vogel als Prophet“ aus den „Waldszenen“ op. 82 und, am 15. Mai, die C-dur-Toccata op. 7. Damit ist auch gleich die ungeheure geistige, kompositorische und manuell-technische Spannweite von Robert Schumanns Klavierschaffen umrissen. Vom introvertiert-unruhigen Klavierstück mit geradezu religiöser Bedeutungstiefe – für den einigermaßen geübten Klavierspieler gut „machbar“ –, bis zur „unspielbaren“ Toccata, die schier unerschöpfliche Energie und nach außen gekehrte, ungetrübte Lebensfreude ausdrückt.
Ich hoffe, auf den folgenden Seiten auch für die vielen professionellen Pianisten unter meinen Lesern noch etwas Neues bieten zu können.
"Vogel als Prophet"
Schumanns „Waldszenen“ op. 82 erschienen vor 160 Jahren (1850) erstmals im Druck. Heute gibt es nicht Wenige, die sich gerne ein bisschen herablassend zu dieser Wanderung durch den „musikalischen Zauberwald“ (so ein Rezensent im 19. Jahrhundert) äußern. Sie schätzen und lieben den jungen, innovativen, genialen Schumann und wollen die Subtilitäten der gemäßigten „Waldszenen“ nicht gleichermaßen schätzen. Davon ausgenommen ist sicher die Nummer 7: Der rätselhafte, unerhört poetische „Vogel als Prophet“ hat bis heute seine besondere Anziehungskraft auf die Klavierspieler und Zuhörer behalten.
Es mag arrogant und furchtbar beckmesserisch klingen: nur ganz wenige Einspielungen des „Vogel als Prophet“ sind meines Erachtens wirklich rundum überzeugend. Es gibt wunderbar tänzerisch-leichte Aufnahmen, wie zum Beispiel die von Claudio Arrau oder von Alfred Cortot, verträumt-sinnende, wie zum Beispiel die von Arthur Rubinstein oder Myra Hess, und auch äußerst eigenwillige wie die historische Aufnahme von Vladimir de Pachmann oder die Violinbearbeitung von Jascha Heifetz. Das sind alles wertvolle und sehr hörenswerte Zeugnisse aus der Rezeptionsgeschichte des Stückes (alle genannten und viele mehr sind in YouTube abrufbar). Ihnen allen mangelt es aber an einer meiner Überzeugung nach wesentlichen Voraussetzung: es mangelt an Texttreue.
Denn der „Vogel als Prophet“ fällt unter (fast) allen anderen Schumann-Stücken dadurch aus dem Rahmen, als es das rechte (und linke) Pedal zu einem Hauptakteur der Klangsprache macht. Die Pedalzeichen sind von ihm hier höchst penibel vorgeschrieben. Betrachten Sie Schumanns Handschrift des Stücks. Es kann kein Zweifel an der Absicht Schumanns bestehen, und so ist sie auch korrekt in der Urtextausgabe des G. Henle Verlags abgedruckt.
Schumanns Autograph der „Waldszenen“ ist übrigens der Faksimile-Ausgabe des G. Henle Verlags entnommen.
Die eine ist erst kürzlich auf CD erschienen und stammt von Andreas Staier [Robert Schumann: "Hommage à Bach". Harmonia Mundi France HMC 901989] und fängt, auf einem Erard-Flügel gespielt, den Zauber des Stückes herrlich ein. Die andere stammt von Wilhelm Backhaus. Es gibt eine Studio- und eine Live-Aufnahme von Backhaus, beide Mitte der 1950er-Jahre entstanden. Hier stimmt einfach alles. Die Live-Aufnahme aus der Carnegie-Hall mit der „Vogel als Prophet“-Zugabe ist besonders stark gelungen (ab 2:10; voraus geht eine atemberaubende f-moll-Etüde op. 25/2 von Chopin und eine kuriose improvisierte Modulation zum Schumann-Stück):
[Video nicht mehr verfügbar]
Die im Handel vom Label Profil erhältliche Backhaus-Live-CD (ein Muss für jeden Klavier-Fan; darin als Hauptwerk eine spektakuläre „Hammerklavier-Sonate“) hat die Nummer PRF 07006.
Ich kenne natürlich nicht alle bei www.arkivmusic.com (der weltweit ersten Quelle für Tonaufnahmen) gelisteten etwa 50 lieferbaren Aufnahmen des „Vogel als Prophet“, aber doch sehr viele. So „richtig“, wie es Backhaus spielte, macht es, außer Staier in jüngster Zeit, sonst keiner.
Für alle Leser, die sich dafür interessieren, wie und warum Schumann das Pedal im „Vogel als Prophet“ so als wesentlichen Werkbestandteil einsetzt, und für alle Klavierspieler, die sich über aufführungspraktische Hinweise anderer Art freuen (Fingersatz-Tipps und Lösungsvorschläge für die orthographisch falsch notierte Hauptfigur), habe ich folgenden kleinen Text geschrieben. Er befasst sich natürlich auch mit der Musik selbst und wie ich sie, subjektiv, deute. Dabei kann ich auch erstmals nachweisen, welches Stück Robert Schumann im G-dur-Mittelteil zitiert:
Die in diesem Text niedergeschriebenen Ideen habe ich in die drei Notenseiten der G. Henle Ausgabe übertragen. Wer sich also konkret am Klavier mit Schumanns „Vogel als Prophet“ auseinandersetzen will, druckt sich Folgendes aus:
„Vogel als Prophet“ mit Einzeichnungen
Zum 1. Mai will ich Ihnen noch einen merkwürdigen Vogel auf den Bildschirm zaubern (der kurze vorausgehende Werbefilm gehört nicht zum Eigentlichen):
Das Robert Schumann Werkverzeichnis
1. Juni 2010
Hochverehrter Herr Schumann,
in wenigen Tagen feiert die gesamte musikalische Welt Ihren 200. Geburtstag. Überall finden Festivals Ihnen zu Ehren statt, von Düsseldorf, Deutschland, bis Mumbai, Indien oder Luzern, Schweiz. Einen guten Überblick über die vielen Veranstaltungen (vor allem in Deutschland) gibt: www.schumannjahr2010.de. Zeitungen und Zeitschriften (wie zum Beispiel die Ausgabe Juni 2010 des Fono Forum) werden von Ihrer unsterblichen Musik und Ihrem bewegten Leben berichten. Die Welt wird erfüllt sein von den Klängen Ihrer Musik.
Aus tiefem, heißem Herzen darf ich mich heute für Ihre überreichen musikalischen Geschenke bedanken und Ihnen zum 200. Geburtstag gratulieren. Natürlich habe ich auch ein Geschenk für Sie. Bitte lesen Sie weiter.
Der G. Henle Verlag profitiert seit Verlagsgründung viel von Ihrem Werk. Wir haben in den letzten Jahren aber auch viel Energie und Geld investiert, um Ihr gesamtes Klavierwerk von Opus 1 bis zu den nachgelassenen Es-dur-Variationen für dieses Jubiläumsjahr in vollständig revidierten Neuausgaben auf philologisch-ästethisch höchstwertigem Niveau vorzulegen.
Heute darf ich Ihnen jedoch ein ganz besonderes Buch unseres Verlags ans Herz legen. Ich bin mir sicher, Sie werden von ihm ebenso begeistert sein, wie viele unserer Kunden, die es schon erworben haben: das Robert Schumann-Werkverzeichnis.
Es ist vor sieben Jahren erstmals erschienen und wird inzwischen weltweit für d a s Referenzbuch zu Ihrem musikalischen Oeuvre gehalten. Es enthält, genau wie Sie es sich immer gewünscht haben, ein genaues Verzeichnis aller Ihrer Kompositionen, ob mit oder ohne Opuszahl, ob vollendet oder Fragment geblieben. Ausführlichst kommentiert, beschrieben und durch zahlreiche Register erschlossen. Unsere Autorin, Margit McCorkle, hat über 10 Jahre ihres Lebens in dieses Buch investiert, die Peter Klöckner-Stiftung stellte einen sehr namhaften Betrag dafür zur Verfügung.
Bitte sehen Sie sich, hochverehrter Herr Schumann, unser umfangreiches Informationsmaterial zum Robert Schumann-Werkverzeichnis an, indem Sie entweder hier auf "Details" klicken oder auf die Abbildung des Covers der Ausgabe.
Das Buch ist freilich nicht mein Geschenk für Sie. Das Geschenk soll etwas ganz Neues sein. Ich bitte Sie, es gleich einmal „auszupacken“ und sich anzusehen. Ich hoffe sehr, es wird Ihnen zusagen. Das hoffen vor allem aber auch die Autorin des Robert Schumann-Werkverzeichnis sowie alle Mitarbeiter der verschiedenen Schumann-Institute; denn sie haben alle wesentlich an diesem Geschenk mitgearbeitet.
Ab heute werden nämlich auf der Homepage des G. Henle Verlags alle neuen Informationen gebündelt vorgestellt, die seit Erscheinen des Robert Schumann-Werkverzeichnis gewonnen wurden. Diese „Addenda“ und „Corrigenda“ sind ab sofort für alle Online-Besucher frei zugänglich und werden künftig das Werkverzeichnis zu allen Ihren Kompositionen wesentlich ergänzen, sobald es neue Erkenntnisse gibt. Mir ist kein einziges Musiker-Werkverzeichnis bekannt, das auf diese innovative Weise beständig „up-to-date“ bleibt.
Hier können Sie sich mein Telefoninterview mit Frau McCorkle anhören, welches ich vergangene Woche über den Sinn und Zweck dieses Geschenks zu Ihrem 200. Geburtstag (in Englisch) geführt habe:
Als ein kleines Extra lade ich Sie noch ein, zu lesen, was der Pianist Paul Badura-Skoda zu Ihrem Werk in Vergleich zu Frédéric Chopins zu sagen hat: 9 Fragen
Und nun muss ich diesen Geburtstagsbrief endigen. Sie dürfen versichert sein, dass besonders im Juni 2010 sich Millionen von Menschen an Ihrer Musik erfreuen und erfrischen werden, und dass dieses „Glücks“ nie „genug“ sein wird.
Mit tiefem Dank
Ihr
Wolf-Dieter Seiffert
PS: Natürlich würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mein Schumann-Forum 2010 gelegentlich wieder besuchen würden. Alle 14 Tage bringe ich etwas Neues zu Ihrem Werk an dieser Stelle.
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15. Mai 2010
Heute nun also die bereits angekündigte (kleine) Sensation: Schumanns berühmte Toccata in C-dur op. 7 (1834) in der nahezu unbekannten Frühfassung von 1830. Dank der Großzügigkeit der Pierpont Morgan Library in New York konnten wir das reinschriftliche Autograph Schumanns einsehen, nach strengen Urtext-Richtlinien edieren und vor wenigen Wochen im Druck veröffentlichen.
Schumanns handschriftliche Frühfassung stellt keineswegs bloß eine leicht abweichende Vorform der eigentlichen, viel geliebten Druckversion der Toccata op. 7 dar. "Die Übereinstimmungen zwischen beiden Fassungen sind so gering, dass die Druckversion im Grunde eine Neukomposition darstellt" – so unser Herausgeber Dr. Ernst Herttrich im Vorwort seiner Henle-Urtextausgabe. Das gesamte Vorwort und /oder den Kritischen Bericht findet der interessierte Leser HIER.
Im Folgenden stelle ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in aller Kürze diese Schumann-Ausgabe des G. Henle Verlags vor (als kleines Extra finden Sie dann im Anschluss daran eine Link-Liste von sämtlichen mir derzeit zugänglichen Audio- oder Video-Aufnahmen der bekannten Fassung von Schumanns C-dur-Toccata op. 7).
Natürlich hoffe ich sehr, dass sich vor allem die Klavierspieler unter Ihnen diese besondere Neuausgabe des G. Henle Verlags besorgen werden, um sich ein eigenes Bild machen zu können:
Das Manuskript dieser hier abgedruckten Frühfassung der Toccata von 1830 – Schumann betitelt sie bezeichnenderweise als "Exercice" – besaß ehemals der große Pianist Alfred Cortot. Cortot hinterließ uns nicht allein unsterbliche Tonaufnahmen vieler Schumann-Werke (leider nicht von der Toccata), sondern er edierte seinerzeit auch alle Schumann-Klavierwerke im Verlag Salabert im Rahmen seiner Reihe "Les Éditions de travail". Kurioserweise gibt er in dieser Ausgabe (mit der Verlagsnummer EMS 5446/D1) nur die bekannte Fassung von 1834 wieder. In der Urtextausgabe des G. Henle Verlags finden sich beide Fassungen hintereinander abgedruckt.
Die sogenannte Frühfassung der Toccata op. 7 ("Exercice") ist ein faszinierendes Werk. Schumann selbst hat sie "viel und eigentümlich" gespielt, wie sein Heidelberger Studienkollege Anton Theodor Töpken berichtet, "in ruhigem, mäßigem Tempo". Natürlich enthält sie, neben derselben Tonart C-dur und der Sonatensatzform, wesentliche Elemente der späteren "Toccata": Beide Sätze sind zweifellos Bravourstücke, die maßlos beeindrucken können. Sie sind beide aus dem Geist der Klavierübung geboren, gespickt mit haarsträubenden klaviertechnischen Schwierigkeiten. Aber es sind keineswegs "Etüden". Dazu sind sie viel zu originell. Beide Sätze wirken wie eine unaufhaltsam vorwärtsdrängende (Dampf-) Maschine, weil es statt abwechslungsreicher Rhythmen einen einzigen Bewegungsablauf gibt, nämlich ein Kontinuum ununterbrochener Sechzehntelnoten. Ohne Rast und Ruh, unaufhaltsam, kraftvoll, eben von motorischer Energie. Beide Sätze beginnen, nach kurzem Eröffnungs-Vorhang, auch mit derselben charakteristischen Doppelgriff-Wechselfigur der Finger 1+5 ? 2+4 ? 1+5 ? 2+4 etc. der rechten Hand. Und beide Fassungen bringen schließlich im a-moll-Mittelteil ("Durchführung") die schwer spielbaren repetierenden Oktaven, die ab einem gewissen (nötigen) Tempo nur wirkliche Klaviervirtuosen mit äußerster Lockerheit realisieren können.
Es gehört zwar sicherlich nicht allzu viel Musikalität dazu, die Toccata Schumanns und ihre Vorläuferin, die "Exercice", zu spielen - aber ein "Klaviervirtuose", das sollte man schon sein. Denn man benötigt Fähigkeiten, die man sonst nur noch aus dem Hochleistungssport kennt: Immense Kraft und gleichzeitig Lockerheit, immense Ausdauer, immense Sprungsicherheit und schließlich eiserne Nerven. Wir begegnen deshalb der Toccata im Konzertsaal relativ selten (nicht wenige der größten Pianisten von gestern und heute haben das Stück nie gespielt), sehr häufig aber in der Musikhochschule. Es ist ein ideales "Trainingsstück" für junge, angehende Pianisten.
Und das gilt in noch stärkerem Maße für die "Exercice". Denn die technischen Schwierigkeiten treten geradezu komprimiert auf, ja, sind sogar noch gegenüber der Toccata gesteigert. Die kurzen, sanglichen Ruhepole der "Toccata" fehlen ihr noch völlig, wie zum Beispiel die freundliche, punktierte Melodie (erstmals in T. 44 ff.). Nur ein detaillierter Vergleich könnte das alles genauer darstellen, und diesen muss ich aus Platzgründen dem Interessierten selbst überlassen. Aber klar ist: Hier werden sehr viele extreme Fingerübungen, die dem virtuosen Pianisten abzuverlangen sind, in einen mitreißenden musikalischen Fluss eingebettet.
Die "Toccata" ist um 100 Takte länger als die "Exercice". Und das nicht etwa, weil diese noch mehr technische Schwierigkeiten anhäuft, sondern im Gegenteil, weil sie letztlich raffinierter und ausgeglichener als die "Exercice" komponiert ist. Das betrifft vor allem die harmonischen Progressionen, die in der Frühfassung oftmals an gewisse uninspirierte Modulationsübungen, allerdings in ungewohnt rasantem Tempo, erinnern. Schon der Beginn kostet nicht die angeschlagene C-dur-Fläche aus, wie es die "Toccata" tut; schon nach vier Takten sind wir in Es-dur (in der Toccata erst nach 16 Takten).
Und weil wir schon bei leiser Kritik an der "Exercice" sind: es fehlt ihr der taktweise rhythmische Puls der "Toccata", wie er sich dort im kleinen Finger der linken Hand wunderbar durchzieht: kurz – lang – kurz / kurz – lang – kurz etc. Dieser wird in großartiger Komprimierung bereits mit den beiden Eröffnungstakten und ihren starken Akkorden ins Gleis gesetzt. In der "Exercice" hingegen beginnt Schumann mit einer geradezu präpotenten Akkordkaskade. Hier will der Komponist überrumpeln, statt überzeugen. Und das setzt sich letztlich fort bis zum Schluss, der in der Toccata leise verklingt (was übrigens Friedrich Wieck monierte), während die "Exercice" endet, wie sie begann: mit einem Donnerschlag.
Die Frühfassung ist dennoch ein genialer Wurf, vor allem ein Gegenentwurf zu den von Schumann als stupide empfundenen Etüden seiner Zeit. Wie intensiv, ja geradezu selbstzerstörerisch Schumann seine Finger trainierte ist nur zu gut bekannt. Friedrich Wieck wollte ihn eigener Aussage gemäß zu einem noch größeren Virtuosen und Künstler machen als die seinerzeit so überaus verehrten Moscheles und Hummel (zu dessen Klaviersonate op. 81 es wohl innere Bezüge gibt). In der technischen Ausbildung seiner Tochter Clara hatte Wieck offenkundig größte Erfolge. Bei Schumann musste er scheitern. Denn in Schumann war in jener Zeit bereits der Keim zum Komponisten-Künstler gelegt, er war nie der geborene Virtuose. Man hat geradezu den Eindruck, dass sich Schumann mit der endgültigen Aufgabe der Pianistenlaufbahn aus selbst angelegten Fesseln befreit und ihm damit der Durchbruch zur eigentlichen Entfaltung gelingt. "Man müsste die Musick von innen heraus hören", notiert er am 5. Juni 1831 in sein Tagebuch! Spätestens ein Jahr später war es wegen unauflösbarer physiologischer Probleme am Mittelfinger der rechten Hand vorbei mit der Karriere als Virtuose.
Wer sich übrigens ein Bild von der Vielzahl der systematischen Fingerübungen Wiecks verschaffen möchte, sollte sich zum Beispiel einmal dessen gedruckte "Klavierstudien" genauer ansehen. Man wird darin einige Modelle wiederfinden, die in höchst verwandelter und nicht selten gesteigerter Form in Schumanns "Exercice" und "Toccata" wieder auftauchen.
Die Verwandlung des ungeschliffenen "Exercice"-Rohdiamanten (1830) zur raffinierten Virtuosen-"Toccata" (1834) geschieht symptomatischer Weise genau in jenen Jahren dieses für Schumanns Leben so entscheidenden Wandels zum großen Künstler. Beide Werke zu kennen, versetzt uns also auf rein musikalischer Ebene in die Lage, auch das Wachsen und Werden Schumanns besser zu verstehen: Er reifte und verwandelte sich genau in diesen wenigen Jahren vom angehenden Klaviervirtuosen, der auch komponierte, zu einem Klavier spielenden Komponisten. Ein entscheidender, nein: der entscheidende Unterschied.
Letztlich erfasst Schumann den wesenhaften Unterschied beider Werke schon allein mit seiner Titelgebung. Die ursprünglich jugendlich-kraftmeierische "Exercice" wandelt sich in eine "nicht mehr so wilde, sondern viel sittigere" Toccata (Schumann am 18. August 1834 an Töpken). Damit stellt er auch das Werk (und sich selbst) gleichsam in einen großen musikhistorischen Kontext, der von der frühbarocken Claviermusik (etwa eines Frescobaldi), über vielerlei Werke Bachs (ich fühle mich immer auch an das c-moll-Präludium des ersten Wohltemperierten Klaviers BWV 847 erinnert) bis letztlich zu Debussy, Ravel, Chatschaturjan und zu Prokofjew reicht, um nur ein paar wenige berühmte Beispiele zu nennen. (Eine außerordentlich reiche "Toccaten-Sammlung" in Schrift und Ton findet der tiefer Interessierte HIER )
Und nun, nach so viel Worten, eine Liste, die sicherlich den einen oder die andere freuen wird. Ich habe über die letzten Monate nämlich sämtliche Aufnahmen zusammen gesammelt, die mir zu Schumanns Toccata unter die Computertastatur kamen. (Von der "Exercice" gibt es verständlicherweise noch keine einzige Aufnahme, denn das Werk ist ja jetzt nahezu erstmals bei G. Henle im Druck erschienen.) Sollten Sie in der folgenden Liste Einspielungen vermissen, würde es mich sehr freuen, wenn Sie mir das als E-Mail melden wollten (davidsbuendler@henle.com). Dann könnte ich mit der Zeit die Liste von heute, mit immerhin 55 Belegen, dank der Leser/innen des Schumann-Forums 2010 verbessern und vervollständigen. Vielen Dank!
In vielen Fällen kann man sich mittels des angegebenen Links die Interpretation sofort anhören (dank YouTube) oder man bekommt über das Plattenlabel entsprechende Ausschnitte zu hören.
Ich bewundere alle diese Pianisten. Sie stellen sich fraglos einem der schwersten Stücke von Schumann, aber auch der gesamten Klavierliteratur. Mir imponieren insbesondere alle diejenigen Aufführungen, in denen der Spieler größte motorische Energie entfaltet, das angeschlagene Tempo also durchhält und dennoch alle Noten packend spielt. Geschwindigkeitsweltmeister ist zweifellos derzeit der Chinese Tang Ying, der das seinerzeit vom legendären Simon Barer angeschlagene, aber nicht durchgehaltene Wahnsinns-Tempo tatsächlich schweißtreibend bis zum Schluss aufrecht erhält. Andere Aufnahmen überwältigen und begeistern mich allerdings viel stärker. (Ich habe meine Favoriten, die Sie unbedingt kennenlernen sollten, in der Liste blau gekennzeichnet.)
Zum Beschluss als YouTube-Video eine dieser Aufnahmen vom Schumann-Toccaten-Olymp: György Cziffra bleibt der Meister aller Klassen. Er scheint geradezu Lust zu empfinden, wenn er dieses haarsträubend schwere, so wunderbar kraftvolle, moderne, lebensfreudige Stück mit dem nötigen insistierenden Drive spielt und dabei dennoch ganz locker bleibt.
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15. Juli 2010
Wie „schwierig“ sind eigentlich Schumanns Klavierwerke zu spielen? Rein klaviertechnisch, aber auch musikalisch? Ich vermute, die Antwort dürfte ziemlich ähnlich ausfallen, würde ich Ihnen, liebe Klavier spielende Leser, diese Frage stellen. Das meiste von Schumann richtet sich wohl doch ausschließlich an den sehr geübten Pianisten, nur weniges dürfte von Anfängern zu bewältigen sein, selbst mit viel Üben. Ich wollte es einmal genauer wissen und fragte den ungemein erfahrenen Pianisten und (Berliner) Hochschulprofessor Rolf Koenen. Aus der Anfangsidee, Schumanns Klavierwerke in Schwierigkeitsgrade aufzugliedern, wurde eine umfassende Aufgabenstellung: Rolf Koenen ist nämlich inzwischen dabei, den gesamten Klavierkatalog des G. Henle Verlag zu bewerten, nach Schwierigkeitsstufen von 1 (= sehr leicht) bis 9 (= sehr schwer). Professor Koenen wird bis Ende des Schumann-Chopin-Jahres 2010 durch das Repertoire vieler tausend Einzelsätze durch sein. Bereits heute können wir allen unseren Homepage-Besuchern einen Großteil davon anbieten, allem voran natürlich das Gesamtwerk Schumanns und Chopins.
Wie finden Sie die Schwierigkeitsgrade des Henle-Katalogs? Ganz einfach. Sie gehen in die Rubrik „Katalog“, wählen einen Komponisten und/oder ein Werk aus (z. B. Schumann, Album für die Jugend), und klicken darauf. In der Unterrubrik „Schwierigkeitsgrade“ (und unter „Inhalt“) erhalten Sie eine Übersicht über den genauen Inhalt des gewählten Bandes (in unserem Beispiel alle Einzelstücke des „Album für die Jugend“) mit dem jeweiligen Schwierigkeitsgrad, wie ihn Rolf Koenen für uns festgelegt hat.
Neben dem Grad finden Sie auch einen „Informations“-Knopf, der Sie zu der Skala von 1–9 führt.
Außerdem finden Sie an derselben Stelle auch eine kurze Erläuterung von Rolf Koenen, wie er die Skala von 1–9 verstanden wissen möchte und was sie bedeutet. Ich habe mit Herrn Koenen ein Interview (auf Deutsch) geführt und ihn zu seiner so wertvollen, aber auch zeitintensiven Arbeit befragt. Er erläutert darin auch, welche Werke er mit ihren Einzelstücken bewertet hat und welche Werke er als Einheit sieht, die er dann mit einem einzigen Grad bewertet. Wir im Henle Verlag sind Rolf Koenen für seine wertvolle Arbeit außerordentlich dankbar. Und ich bin mir sicher, dass viele Musiklehrer, ob auf privater oder institutioneller Seite, aber auch Liebhaber diese Bewertung des Klavierrepertoires nach Schwierigkeit der Aufführung sehr gerne und mit großem Nutzen annehmen werden. Klicken Sie doch auf folgenden Link, um sich das informative Gespräch anzuhören:
Kommen wir zurück zu Robert Schumanns Klavierwerken. Wie schwierig sind sie nun? Gibt es darunter auch etwas Lohnendes für mich, den Amateur? Oder ist alles „unspielbar“ schwer?
Nun, ich bin zur Beantwortung der Frage auf die Homepage des Henle-Verlags gegangen und habe im Online-Katalog bei „Komponist“ Schumann und bei „Instrument“ Klavier zu zwei Händen eingegeben. Es zeigt sich ein erfreuliches Bild für den einigermaßen begabten Klavierspieler. Klar, sehr viele Werke (darunter die bekannten Zyklen) rangieren im Schwierigkeitsgrad „sehr schwer“ (= 7-9). Andererseits: Es finden sich auch einige wenige „leichte“ Sachen nicht nur im „Album für die Jugend“ op. 68, sondern auch in den „Kinderszenen“ op. 15 (Nr. 1 und 13), die „Kindersonate“ op. 118, Nr. 1 ist „leicht“ (Grad 3), das Wiegenliedchen und das Larghetto aus den „Albumblättern“ op. 124. Das war’s allerdings auch schon im „leichten“ Bereich. Die Überraschung (für mich jedenfalls) ist die interessante Fülle von „mittelschweren“ Stücken Schumanns (also die Kategorie 4–6). Hier findet sich manch Stück, das der ambitionierte Laie durchaus bewältigen kann, und vor allem, mit Freude spielen kann. Ich nenne im folgenden die Stücke:
- die „Papillons“ op. 2 (Schwierigkeitsgrad 6)
- die „Intermezzi“ op. 4
- ein Teil der Fantasiestücke op. 12
- im wesentlichen die „Kinderszenen“ op. 15
- die wunderbare „Arabeske“ op. 18
- das „Blumenstück“ op. 19
- das mittlere Stück aus den „3 Romanzen“ op. 28
- etliches aus dem „Album für die Jugend“ op. 68
- die „Waldszenen“ op. 82
- der überwiegende Teil aus den „Bunten Blättern“ op. 99
- die „Kindersonaten“ op. 118, Nr. 2 und 3
- der überwiegende Teil der „Albumblätter“ op. 124
- und schließlich die „Sieben Klavierstücke in Fughettenform“ op. 126
Da ist doch sicher einiges darunter, das sich für uns lohnt!
July 1, 2010
Robert Schumanns bekannteste Komposition. Allein schon der Titel scheint Programm und Definition von „Romantik“. Inbegriff der deutschen musikalischen Hochromantik. So viele hunderttausende Pianisten haben Schumanns „Träumerei“ schon so oft, so schön und vor allem sooooooo langsam gespielt. Eine große Tradition, an die man zwangsläufig oder unbewusst anknüpft, setzt man sich ans Klavier und spielt sie, die „Träumerei“.
Und doch ist das Schneckentempo, in dem wir Schumanns „Träumerei“ kennen, ein großer Irrtum. Ein Erbfehler, (der übrigens mit Clara Schumann beginnt). Es gibt bedenkenswerte, also gute Argumente gegen dieses Tempo. Sie sollen im Folgenden kurz ausgebreitet werden.
In der vorausgehenden Ausgabe des Schumann-Forums (15. Juni, siehe unten) präsentierte ich Ihnen einen Überblick über Schumanns sämtliche authentischen Metronomangaben; dazu eine maßgebliche Stimme aus der Fachwelt, die zum Schluss kommt, dass alle diese Metronomangaben der Richtung nach ernst zu nehmen, also nicht falsch oder ein Irrtum sind. Heute präsentiere ich Ihnen gewissermaßen als Nagelprobe das berühmteste Klavierstück Schumanns mit Viertelnote = 100. So hat das Schumann selbst gewollt. Das ist für den heutigen Spieler, aufgrund der Tradition, geradezu utopisch schnell. Zu schnell. Wirklich: „zu schnell“?
Ich habe den wunderbaren Pianisten und Hochschullehrer Michael Schäfer gebeten, exklusiv für unser Schumann-Forum die „Träumerei“ in diesem originalen Tempo zu spielen. Bevor Sie nun den Kopf schütteln – hören Sie es sich doch einmal an:
Das Tempo ist ungewohnt und verstörend. Weil wir das Stück anders kennen und lieben. Würden Sie jedoch die „Träumerei“ zum ersten Mal hören, dann wären Sie nicht verstört. Sie hören ein wunderschönes Klavierstück in fließender Bewegung mit stets wiederkehrendem Kernmotiv in abwechslungsreichem harmonischem Kleid; zarte Verzögerungen und Beschleunigungen machen es sprechend. So ähnlich hat es inzwischen auch Andreas Staier eingespielt und ich höre aus verschiedenen Ecken dieser Welt, dass immer mehr bedeutende Pianisten die Metronomangaben Schumanns, auch der besonders umstrittenen „Kinderszenen“ ernst(er) nehmen. Deren Konzerte und Aufnahmen werden, da bin ich mir sicher, eine neue Tradition einläuten.
Ich habe mit Professor Schäfer ein Gespräch geführt und ihn gefragt, wie er sich bei Tempo 100 gefühlt hat. Und was er davon hält. Die mich überraschende Antwort ist, dass er dankbar für dieses „Experiment“ ist. Er ist überzeugt davon, dass nur dieses oder annähernd dieses originale Tempo dem „kleinen Ding“ (wie es Schumann selbst nannte) gerecht wird. Die Tradition ist falsch.
Hier können Sie das Interview mit Michael Schäfers scharfsinnigen und mich rundum überzeugenden Argumenten (auf Deutsch) hören:
Ich habe diese wichtigen Argumente, die in der Tat alle für Schumanns Viertelnote = 100 in der „Träumerei“ sprechen, außerdem in Stichworte zusammengefasst (deutsch/englisch):
Alle Klavierspieler unter meinen Lesern dieses Forums kann ich nur ermutigen und ermuntern, es einfach einmal auszuprobieren: Spielen Sie doch häufiger die „Träumerei“ nicht wie im üblichen Tiefschlaf, sondern im Tempo, wie es sich der Urheber vorgestellt hatte. Neben den objektiven, künstlerischen und nicht zuletzt akustischen Gründen, die uns hier Michael Schäfer vorstellt, kann ich Ihnen noch etwas auf den Weg mitgeben, worüber Sie einmal nachdenken sollten: nämlich über den Titel. Ich bin überzeugt, hätte Schumann wirklich ein langsames bis sehr langsames Tempo bei diesem Stück gewünscht, so hätte er es „Traum“ und nicht subtil „Träumerei“ genannt. Worin sich ein „Traum“ von einer „Träumerei“ unterscheidet? Lesen Sie hierzu meinen kurzen Essay „Vom Tiefschlaf auf 100. Zu Robert Schumanns Träumerei“
1. August 2010
In dieser und der nächsten Ausgabe steht Schumanns Vokalmusik im Mittelpunkt unseres Schumann-Forums 2010. Anlass dafür ist eine vor wenigen Wochen erschienene neue Urtextausgabe im G. Henle Verlag, nämlich der „Liederkreis“ Opus 39 nach Texten von Joseph Freiherr von Eichendorff.
Unsere Ausgabe bietet nicht allein den korrekten und gegenüber allen landläufigen Ausgaben stark verbesserten Notentext des „Liederkreis“. Das ist selbstverständlich. Darüber hinaus haben wir auch die erste Fassung von 1842 vollständig abgedruckt. Schumann überarbeitete nämlich seinen „Liederkreis“ im Jahre 1850 und ließ das Werk dann neu, in der heute bekannten Fassung, drucken.
Damit bietet der G. Henle Verlag erstmals die Chance, sich bequem alle Unterschiede und Änderungen vor Augen zu führen. Ein umfangreiches Vorwort und ein kritischer Apparat gehen auch auf die Fassungsproblematik ein. Schließlich setzen wir noch eins drauf, und drucken (erstmals überhaupt) weitere Einzelfassungen ab, die von der „Mondnacht“, der „Frühlingsnacht“ und vom „Intermezzo“ überliefert sind. Folgende Abbildung zeigt Ihnen das gesamte Inhaltsverzeichnis zur Übersicht.
„Lieblingszyklus“ (Christian Gerhaher)
Für den weltweit umjubelten, in München lebenden Bariton Christian Gerhaher stellt der „Liederkreis“ op. 39 Robert Schumanns den „Gipfelpunkt des Liedschaffens“ dar. Er bezeichnet ihn als seinen „Lieblingszyklus“. Grund genug für uns, ihn zusammen mit seinem kongenialen Klavierbegleiter, Gerold Huber, zu einem Gespräch in den Verlag einzuladen. Es wurde vorbereitet und durchgeführt von meiner Kollegin im Henle-Lektorat, Frau Dr. Annette Oppermann.
Das gemeinsame Gespräch verlief äußerst anregend und ging sehr schnell in die Tiefe der Aspekte. Deshalb musste ich für Sie, meine Leserinnen und Leser, zunächst einmal eine schriftliche Fassung der wesentlichen Gesprächspunkte zusammenfassen. Sie können das im Folgenden (Deutsch und Englisch) nachlesen. Ich bin der Überzeugung, dass alle Sänger und Sängerinnen, alle am Lied interessierten Pianisten und natürlich alle Lied- und Gerhaher-Fans hier noch eine Menge Neues und Lesenswertes finden werden: Abstract Gehrhaher
Aber natürlich will ich Ihnen auch ein paar Originaltöne des sehr lebhaften Gesprächs nicht vorenthalten. Hier ein ganz kurzer Zusammenschnitt (auf Deutsch).
Welche zentrale Rolle Eichendorffs Texte für Schumann allgemein und im Besonderen natürlich für den „Liederkreis“ op. 39 spielten, wurde im Gespräch mit Gerhaher/Huber immer wieder deutlich. Warum wollen Sie, liebe Leserinnen und Leser, nicht die Sommertage nutzen, um einmal (wieder) Eichendorffs wundervolle Poesie zu genießen?
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Mondnacht
Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blüten-Schimmer
Von ihm nun träumen müßt’.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Aehren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Caspar David Friedrich (1819):
Two Men Comtemplating the Moon
15. August 2010
Eichendorffs „Mondnacht“-Gedicht zählt fraglos zu seinen stärksten. Angeblich ist es eines der beliebtesten Gedichte der Deutschen überhaupt. Das glaube ich gerne, denn auch der ach so „moderne“ Mensch des 21. Jahrhunderts kann sich der Magie dieser drei Strophen wohl kaum entziehen. Und zwar nicht alleine wegen Eichendorffs geradezu erschütternder Sprachmächtigkeit, seines charakteristischen Sehnsuchtstons und der raffinierten Verschränkung von Naturerleben und Innenspiegelung. Eichendorffs stärkste Gedichte weisen stets noch darüber hinaus, ins Große, Metaphysische, ja Religiöse. Das ist ganz unüberhörbar auch bei der „Mondnacht“ der Fall, und das Codewort dafür ist „meine Seele“ (zu Beginn der 3. Strophe). Das zart berührende Bild des Todes als sanfte Heimkehr der Seele („nach Haus“) empfinden wir wie eine „Befreiung von irdischer Schwere und Bitterkeit“ (so der Germanist Wolfgang Frühwald in einer exzellenten Spezialstudie). Nicht übersehen sollte man auch die schlichte Tatsache, dass sich die „Mondnacht“ in Eichendorffs Gedichtband ausgerechnet unter den „Geistlichen Gedichten“ befindet.
Die Herausgeberin der Henle Urtextausgabe des „Liederkreises“ op. 39 von Schumann, in dem die „Mondnacht“ bekanntlich das fünfte von insgesamt 12 Liedern bildet, weist in ihrem Vorwort darauf hin, dass im 19. Jahrhundert „die religiöse Bindung des Textes der Mondnacht anscheinend noch bekannt [war], denn dieses Lied erklang auch am 22. September 1856 bei der musikalischen Gedächtnisfeier für Robert Schumann in Dresden“ (Kazuko Ozawa). Hier der Link zum Vorwort und weiteren Information zur brandaktuellen Henle-Urtextausgabe. Darin werden übrigens erstmals sämtliche (voneinander abweichenden) Fassungen von Schumanns „Mondnacht“ abgedruckt; es sind beeindruckende vier Fassungen.
Und es gibt eine versteckte, bislang meines Erachtens unentdeckt gebliebene wundervolle musikalische Anspielung Roberts an seine Braut: Die „Mondnacht“-Melodie zitiert nämlich wörtlich den Anfang des berühmtesten Beethoven-Lieds mit dem bezeichnenden Titel „An die ferne Geliebte“ (op. 98). Dass Schumann dieses Beethoven-Lied kannte, wissen alle Schumann-Kenner: Er zitiert am Schluss des ersten Satzes der C-dur-Fantasie op. 17 aus demselben Stück eine nicht weniger bezeichnende Textstelle ebenfalls wörtlich: „Nimm sie hin denn, diese Lieder, die ich dir, Geliebte, sang“.
Um diesem besonderen Schumann-Lied nun näher zu kommen, habe ich mich des Wissens und der Kunst einer der bedeutendsten Sängerinnen und Gesangsprofessorinnen unserer Zeit vergewissert und mit Frau Dr. h.c. mult. Edith Wiens ein Gespräch über Schumann und die „Mondnacht“ geführt. Edith Wiens hat in ihren Konzerten (und CDs) nicht nur den Schumann-Ton so unnachahmlich beseelt und berückend getroffen, sondern sie wird in wenigen Tagen auch dem Ruf auf eine Gesangsprofessur an der Juilliard School of Music in New York folgen. Das Gespräch mit dieser großen Künstlerin dauerte über eine Stunde und ich kann es hier aus Platzgründen leider nur in Ausschnitten (meist in Deutsch, aber gelegentlich auch Englisch) wiedergeben.
Zunächst drehte sich unser Gespräch um den Text von Eichendorff und dessen „Übersetzung“ ins Lied. Dann kamen wir auf Schumann zu sprechen. Warum ist die „Mondnacht“ ein so „besonderes“ Lied?
Wodurch zeichnet sich nach Meinung von Edith Wiens eine gelungene Interpretation der „Mondnacht“ aus?
Es gibt kaum eine/n Sänger/in (unter den professionellen), der/die nicht doch ein bisschen Angst vor der „Mondnacht“ hätten. Warum ist das so? Worin liegen die vermeintlichen (technischen) Schwierigkeiten? Sollte man in einem gewissen Alter sein, um die „Mondnacht“ zu singen und wie steht das Lied in technischer, stimmlicher Hinsicht im Kontext der anderen Lieder dieses Zyklus?
Welche Stimmlage bevorzugt Edith Wiens für die „Mondnacht“? Ist es ein Lied eher für eine Männer- oder Frauenstimme? Darf man transponieren?
Abschließend saßen Edith Wiens und ich vor dem PC und wir hörten uns etliche (ältere und neuere) Aufnahmen der „Mondnacht“ von Robert Schumann an, wie sie auf YouTube zu finden sind (siehe unten). Ich wollte gerne von ihr wissen, welche Aufnahmen ihr gut oder nicht so gut gefallen und warum. Für fast jeden Künstler hatte Frau Wiens ein freundliches, lobendes Wort. Es war eine wunderbare Lehrstunde hochprofessioneller Kritik.
Eine ihrer Lieblingsaufnahmen ist diejenige von Dietrich Fischer-Dieskau mit Günther Weissenborn, vor allem wegen der sängerischen Leistung. Richard Taubers Aufnahme nimmt sich viel zu viele Freiheiten gegenüber dem Text, es wirkt fast wie improvisiert; und doch hat er die berühmte „Träne“ in der Stimme, was Frau Wiens durchaus anrühren kann. Bryn Terfel findet Wiens hervorragend, wie „ein warmes Bad“; ein Opernsänger, der das Lied versteht, vielleicht bei den ganz zarten Tönen aber etwas Mühe hat? Aus jüngerer Zeit ist ihre favorisierte Aufnahme diejenige von Matthias Goerne mit Eric Schneider. Warum?
Von all den vielen Pianisten auf den YouTube-Aufnahmen, die wir abhörten, zeigte sich Edith Wiens beeindruckt von der Klavierbegleitung Leonhard Hokansons (mit Hermann Prey) und ganz besonders vom Klavierspiel Vladimir Ashkenazys, wie er Barbara Bonney begleitet, die ihrer Meinung nach „sehr seelenvoll“, aber ihr insgesamt doch ein wenig zu eindimensional (Vibrato!) singt. Die Kunst der optimalen Klavierbegleitung erklärt Frau Wiens so: Das Klavierspiel muss das Gegenteil von linear sein, es muss kreisen und unmerklich Akzente, Impulse setzen. Das nimmt dem Sänger jegliche Angst. Wiens zieht einen interessanten Vergleich zu Richard Strauss’ Lied „Die Nacht“ op. 10 Nr. 3:
Auf meinen Dank für das ausführliche Gespräch, bei dem ich so vieles Neues lernen konnte, antwortete Frau Wiens folgendes:
Die folgende YouTube-Playliste, eigens für meine Leser des Schumann-Forums 2010 erstellt (unter kräftiger Mithilfe von Cornelia Nöckel – vielen Dank!) enthält dutzende von „Mondnacht“-Aufnahmen. Man muss sich schon ein wenig Zeit dafür nehmen und in der gewissen Stimmung sein, um sich einige davon konzentriert anzuhören. Vielleicht wollen Sie sich dafür folgenden Termin vormerken: Dienstag, 24. August 2010. Dann steht nämlich der nächste Vollmond am Firmament. (Woher ich das weiß?: www.timeanddate.com).
Aber Vorsicht: Werden Sie nicht mondsüchtig! Schumann/Eichendorff-Sucht ist freilich nur all zu verständlich.
1. September 2010
Wussten Sie, liebe Leserinnen und Leser, dass Robert Schumann als junger Mann auch Cellounterricht genoss? Und doch spielt dieses Lieblingsstreichinstrument der Romantik keine herausgehobene Rolle in Schumanns frühem Œuvre, sieht man einmal von den wundervollen Stellen in den langsamen Sätzen der ersten und vierten Symphonie und vom Klavierkonzert ab. Erst relativ spät wandte er sich dem Cello intensiv zu.
Heute soll es um die fünf kleinen Geschwister des Cellokonzerts von Schumann gehen, die 1849 entstandenen „Fünf Stücke im Volkston“ für Violoncello oder Violine und Klavier, op. 102. Sie gehören zu Recht zum unverrückbaren Standardrepertoire der Cellisten, aber auch Geiger sollen hier und heute neugierig auf diese großartigen Stücke gemacht werden, denn die Fassung für Violine, die zum Teil (auch im Klavierpart) vom Cellopart abweicht, ist höchst wahrscheinlich authentisch. Nicht jedoch die übrigen Fassungen, die man gelegentlich hört, wie zum Beispiel die (berückend schöne) Fassung für Oboe und Klavier.
Der G. Henle Verlag hat nun pünktlich zum „Schumann-Jahr“ beide originalen Fassungen im Urtext veröffentlicht (s.u.).
Als besonderes Highlight der heutigen Ausgabe des „Schumann-Forums 2010“ präsentiere ich Ihnen ein Interview, das ich mit einem der bedeutendsten Cellisten unserer Zeit über die „Fünf Stücke im Volkston“ geführt habe. Für Geringas liegt der Schlüssel zu diesen Stücken im Titel. Wer sich nämlich zu den Stücken keine Geschichten einfallen lässt und sie den Zuhörern gewissermaßen wie ein Volksmärchen erzählt, der langweilt, und aus dieser unglaublichen Kunst wird trockene, langweilige Musik.
Der „Volkston“ liegt nicht etwa in zur Schau gestellter Virtuosität, sondern im besonders lebendigen Erzählen einer intensiv vorgestellten Geschichte.
Geringas stellt sich zum Beispiel für das erste Stück, überschrieben mit „Vanitas vanitatum“ („Alles ist eitel“, d.h. alles Irdische ist vergänglich), jemanden in sich selbst Verliebten vor, über den alle anderen lachen; die darzustellende Situation dieses Individuums hat etwas Komisches und Tragisches zugleich. Und prompt wird aus dem allgemeinen Sinnspruch des Predigers Salomon, eine konkrete Erzählung, die man als Cellist (oder Geiger) zusammen mit dem Pianisten greifbar und sprechend vortragen kann.
David Geringas hat zu der Henle-Urtextausgabe der „Fünf Stücke im Volkston“ den Fingersatz und die Bogenstrich-Einteilung beigetragen. (Die Einrichtung der Violinausgabe besorgte Ernst Schliephake.) Für Geringas – man höre sich das Interview (unten) an – muss der gedruckte Fingersatz eine optimale Synthese darstellen aus Studium des Urtextes, Konzert- und Unterrichtspraxis. Auch Cellisten mit nicht riesig großen Händen müssen den Text Schumanns musikalisch stimmig umsetzen können. (Wer übrigens eine eigene Einrichtung der Solostimme vornehmen mag, der wird bei Henle optimal bedient, denn er erhält, wie bei Henle in den Streicherausgaben überwiegend üblich, beide Stimmen: mit und ohne Fingersatzeinrichtung).
David Geringas und Wolf-Dieter Seiffert
Über alles das und noch mehr spricht David Geringas in folgendem Interview (auf Deutsch). Besonders den Streichern unter meinen Lesern empfehle ich dringend, auf Folgendes zu klicken:
In YouTube finden Sie die wundervolle Einspielung des nicht weniger berühmten Lehrers von David Geringas, nämlich von Mstislav Rostropovich (mit Benjamin Britten am Klavier!). Viel Vergnügen beim Anhören des hier wiedergegebenen dritten Stücks „Nicht schnell, mit viel Ton zu spielen“.
In der folgenden Ausgabe am 15. September geht es wieder um das Klavier. Lars Vogt hat Schumanns Fantasie op. 17 zusammen mit Liszts h-moll-Sonate eingespielt. Die CD erscheint in wenigen Wochen. Grund genug für das „Schumann-Forum 2010“ ihn zum Gespräch zu bitten.
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15. September 2010
„Diese unvergessliche Intensität im dritten Satz der Fantasie! Sviatoslav Richter äußerte sich einmal, dass er Hemmungen hätte, den dritten Satz zu spielen, weil er so grenzenlos innig ist.“
(Elisabeth Leonskaja)
„Für mich ist die C-Dur-Fantasie Schumanns größtes Klavierwerk.“
(Rudolf Buchbinder)
„In ihren inneren poetischen Dimensionen gehört für mich die Schumannsche Fantasie zu den besten Werken der gesamten Musikliteratur.“
(Lars Vogt)
Alle sind sich darin einig, dass Robert Schumanns Fantasie op. 17 ein unübertroffenes Meisterwerk ist. Viele Pianisten zählen es sogar zu den besten Klavierstücken aller Zeiten. Die C-dur-Fantasie muss also unbedingt eine Hauptrolle in unserem „Schumann-Forum 2010“ zugewiesen bekommen. Heute ist es soweit.
Bekanntlich hat Schumann seine 1839 erschienene Druckausgabe der C-dur-Fantasie Opus 17 keinem Geringeren als Franz Liszt gewidmet: „Herrn Franz Liszt zugeeignet“. Liszt wiederum widmete seine 1854 im Druck erschienene h-moll-Sonate Robert Schumann: „An Robert Schumann“. Wie elektrisiert war ich, als mich Lars Vogt, der gefeierte deutsche Pianist, darauf aufmerksam machte, dass Schumann im selben Jahr (Februar 1854) seinen Suizidversuch unternahm. Natürlich dürfte das ein Zufall sein. Aber kein Zufall ist dann die Widmung Liszts (auch im Tonfall): Denn das ist ein schwergewichtiger musikalischer Gruß an den hoffnungslos in Endenich siechenden „Freund“. Ich setze das „Freund“ in Anführungszeichen, weil das Verhältnis der beiden ja durchaus nicht ungetrübt war.
Lars Vogt and Dr. Wolf-Dieter Seiffert
Darüber, und über diese beiden wohl bedeutendsten Klavierwerke des 19. Jahrhunderts, sprach ich vor dem Mikrophon mit Lars Vogt.
Lars Vogt hat nämlich vor kurzem Schumanns C-dur-Fantasie op. 17 und Franz Liszts h-moll-Sonate im Studio aufgenommen. Seine CD mit der ungemein beziehungsreichen Kombination beider Großwerke wird voraussichtlich in wenigen Tagen erscheinen.
Schumann wusste, dass er mit diesem Werk etwas Besonderes geschaffen hatte. Seiner Braut Clara gegenüber meinte er: „Der erste Satz ist wohl mein Passioniertestes, was ich je gemacht“, um dann sofort beziehungsreich anzuschließen: „— eine tiefe Klage um Dich“. Nun, nach „Klage“ klingt es ja zu Beginn nicht, eher nach großem Glück und „Weltumarmung“ (Lars Vogt). Lars Vogt sieht in diesem großartigen Anfang der C-dur-Fantasie eher die ersehnte Erfüllung seiner Liebe:
Schumann stellte bekanntlich als Motto der C-dur-Fantasie eine Strophe Friedrich Schlegels voran; in diesem Motto geht es um den „leisen Ton“, den nur derjenige hören kann, „der heimlich lauschet“:
Gewaltig ist dieser erste Satz angelegt, für Lars Vogt ist „das ganze Leben darin, alles!“
Den zweiten Satz empfindet Lars Vogt als eher untypisch für Schumann, weil er sehr „heroisch“ und ungeheuer auftrumpfend ist. Aber der Anfang beginnt trotz der gewaltigen Akkorde und der Vorschrift „Durchaus energisch“ nicht im Fortissimo und auch nicht im Geschwindmarsch, sondern im Mezzoforte und „Mäßig“, worauf Herr Vogt klug aufmerksam macht:
Und hier kommt Franz Liszt ins Spiel. Denn bekanntlich ist der ganze 2. Satz pianistisch-technisch nur sehr schwer zu bewältigen, und dessen Schluss mit der Stretta ab Takt 232 ff. („Viel bewegter“) ist wahrscheinlich eine der gefürchtetsten Partien des gesamten Klavierrepertoires. Die dort verlangten Akkordsprünge in beiden Händen mit gleichzeitiger Melodie- und gegenläufiger Basslinie bei raschem Tempo sind nahezu unspielbar. Für Franz Liszt gewissermaßen pianistische Peanuts. Herrlich liest sich das in den „Personal Recollections of Chats with Liszt“ von Anton Strelezki (London 1893, S. 4 f.):
He [Schumann] asked me to proceed with the ‘March’, after which he would give me his criticism. I played the second movement, and with such effect that Schumann jumped out of his chair, flung his arms around me, and with tears in his eyes, cried: “Göttlich!”
Lars Vogt liest das „Viel bewegter“ am Beginn der Stretta des zweiten Satzes nicht so sehr als Tempoangabe denn als Charakterbezeichnung. Natürlich sei der Schlussteil ein bewusstes „Überdrehen“, ein „an die Grenze des Möglichen oder darüber hinaus Gehen“. Dennoch sollte bei der Aufführung die innere Steigerung des Erregungszustands stärker als das rein äußerlich Virtuose spürbar werden:
Der Kontrast zwischen dem zweiten und dem dritten Satz in seiner Ruhe, seinem Frieden und dem Hymnus könnte nicht größer sein. „Langsam getragen. Durchweg leise zu halten“ überschreibt Schumann ihn. Kein Zweifel: Hier setzt sich „Eusebius“ gegen den lebhafteren und sprunghafteren „Florestan“ endgültig durch:
Franz Liszt, dem die C-dur-Fantasie immerhin gewidmet wurde, hat diese erstaunlicherweise nie öffentlich gespielt. Er war der Ansicht, dass sie für das große Publikum zu schwierig zu verstehen sei. Vielleicht hängt das mit diesem dritten Satz zusammen. Darauf deutet doch auch die Meinung Sviatoslav Richters hin (siehe oben), wenn er von dem „grenzenlos innigen“ dritten Satz spricht, der ihn geradezu hemme. Denn der dritte und letzte Satz des Opus 17 bringt die Zerrissenheit der menschlichen Seele im Sinne einer versöhnenden Synthese und metaphysischen Verklärung zusammen. Durchaus vergleichbar dem inneren Programm der h-moll-Sonate Liszts, die ja ebenfalls, und noch expliziter als bei Schumann, das Dämonische und das Himmlische (alles gestaltet aus einem einzigen musikalischen Kerngedanken!) vehement konfrontiert und schließlich im dreifachen Pianissimo ausklingen lässt. Liszt wusste um die seelischen Nöte, die einen Hochsensiblen peinigen können, und er wollte dies mit der Widmung seiner bedeutendsten Klavierkomposition – die er übrigens ebenfalls selbst nie öffentlich spielte – an den bereits im Irrenhaus in Endenich Verstummten auch mitteilen. Lars Vogt, der in unserem Gespräch begeistert und in tiefer Kenntnis auch ausführlicher über die h-moll-Sonate Liszts sprach, fasst diesen Gedanken wie folgt abschließend zusammen:
Gedanken zum Schluss von Schumanns Fantasie
Was Sie hier sehen, ist die letzte Seite der C-dur-Fantasie op. 17 in der Handschrift des Schumann-Kopisten Carl Brückner aus Leipzig. Warum zeige ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser des „Schumann-Forums 2010“, gerade diese letzte Seite? Weil sie den ursprünglich von Schumann intendierten Schluss der C-dur-Fantasie zeigt. Wie Sie erkennen können, sofern Sie die C-dur-Fantasie kennen, griff Schumann nämlich ursprünglich auf den wundervollen Schluss des ersten Satzes der Fantasie zurück, um das gesamte Stück abzuschließen.
Und das ist bekanntlich jene berührende Stelle, an der Schumann mit einem Beethoven-Zitat hinüberwinkt an seine Braut Clara: „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ (aus Beethovens Liederzyklus Opus 98 „An die ferne Geliebte [= Clara]“).
Aber Schumann strich diesen Gedanken eindeutig durch und ersetzte ihn durch die bis heute bekannten Schlusstakte. Sie finden sich daher auch so in der von Schumann überprüften und autorisierten Erstausgabe. Hätte diese Vorlage für die Erstausgabe nicht überlebt, wir wüssten nichts von dieser Vorstufe. So aber können wir Musikwissenschaftler und Musiker darüber spekulieren, ob Schumann mit dieser Streichung nicht vielleicht den ursprünglich „besseren“ Schluss verwässerte. Es gibt durchaus ernst zu nehmende Künstler, die dieser Ansicht sind. So existiert zum Beispiel eine DVD mit dem großen Musikwissenschaftler und Pianisten Charles Rosen, der die C-dur-Fantasie mit diesem ursprünglichen Schluss spielt und dies auch erläutert. Und im kommenden Jahr wird eine Doppel-CD des Pianisten András Schiff erscheinen (ECM), die sogar beide Versionen enthält (auf YouTube kann man übrigens den Mitschnitt eines Schiff-Konzerts sehen und hören, aus dem ersichtlich wird, welche der beiden Fassungen er bevorzugt). Alan Walker, der große Liszt-Forscher hat eigens einen Aufsatz zu dieser Thematik geschrieben und stellt die Budapester Handschrift in einen spannenden biographischen Kontext (Schumann, Liszt and the C Major Fantasie, Op. 17: A Declining Relationship, in: Music and Letters [1979], S. 156-165).
1987 wurde die C-dur-Fantasie im Henle Verlag textlich revidiert, weil wir Zugang zu der Budapester Abschrift erhielten. Alle Auflagen zwischen 1987 und 2003 unserer Henle Urtextausgabe von Schumanns Opus 17 enthielten – in Kleindruck als Fußnote – als Zusatzinformation auch diesen ursprünglichen Schluss. Seit wir im Jahr 2003 die erneute kritisch revidierte Ausgabe herausgebracht haben, verzichten wir auf diesen Zusatz; es erfolgt nur ein Hinweis im Kritischen Bericht. Seither bekommen wir immer wieder Briefe von Pianisten, die sich nach dem Grund dafür erkundigen, weil sie den ursprünglichen Schluss für sehr interessant, wenn nicht gar für besser halten.
Exklusiv für meine Leserinnen und Leser dieses Forums biete ich nochmals, und nur an dieser Stelle die entsprechende Seite aus der vergriffenen Henle-Ausgabe mit dem Abdruck der ursprünglichen Version des Schlusses der C-dur-Fantasie.
Zum kostenlosen Download der Notenseite (pdf) >>
Warum bietet unsere neue, aktuelle Urtextausgabe diesen Zusatz nicht mehr an, werden Sie sich sicherlich fragen. Nun, die Antwort hat viel mit der Verantwortung zu tun, die wir als Editoren und Verleger haben. Wie bereits gesagt, ist Schumanns Willen eindeutig. Er will nicht, dass die aus seiner Sicht überholte Version gespielt wird. Er hat sie deutlich gestrichen und das Gewünschte notiert. Er las gewissenhaft Korrektur der Erstausgabe. Sie ist Schumanns letztes Wort. Das haben wir alle zu respektieren. So sehr es aus Sicht des Studierenden hoch interessant ist, zu sehen, wie die C-dur-Fantasie zu dem wurde, was sie heute ist, so wenig hat das etwas mit einer Urtextausgabe zu tun. Wir wollen unseren Musikern nicht Frühversionen verschiedener Teile aus den Vorstufen präsentieren, sondern den korrekten, vom Autor legitimierten Text. Daher war es ein Fehler, in einigen Auflagen den ursprünglichen, aber eben von Schumann selbst verworfenen Schluss des Werkes abzudrucken (es sieht fast wie ein „Ossia“ aus, wenn es auch nicht als solches deklariert ist; siehe das PDF oben).
1. Oktober 2010
Sehr verehrte Leserinnen und Leser,
zu meinen ganz besonderen Konzerterlebnissen der letzten Jahre zähle ich eine Schumann-Matinée, die der Pianist András Schiff im wundervollen „Reitstadl“ in Neumarkt Anfang 2009 gegeben hat. Das Konzert wurde live mitgeschnitten und erscheint bei ECM auf CD (voraussichtlich Anfang 2011). Es war mir also ein besonderes Vergnügen, diesen Ausnahmekünstler für Sie, liebe Leser des „Schumann Forums“, zu Robert Schumann zu befragen.
In das Zentrum unseres Gesprächs stellten wir die Frage, ob es einen spezifischen Schumann-Ton gäbe und wie er wohl zu beschreiben und zu fassen sei. Im Folgenden können Sie Ausschnitte des in deutscher Sprache geführten Gesprächs hören. Eine schriftliche Zusammenfassung (deutsch und englisch) wird aber gerade meinen nicht deutsch sprechenden Lesern willkommen sein:
Auf die Kernfrage unseres Gesprächs, ob es denn überhaupt einen spezifischen „Schumann-Ton“ gäbe, antwortete András Schiff wie folgt bestätigend:
Um diesen Schumann-Ton konkreter fassen zu können, ging Schiff dann intensiv auf den Klaviersatz Schumanns ein, den er für revolutionär und genial hält.
Sir András Schiff
Ein wesentlicher Aspekt ist ihm dabei die ungewöhnliche Satzweise der Mittelstimmen:
Dann ging Schiff auf Robert Schumanns ungewöhnlichen Umgang mit dem Metrum ein; er verstecke gerne die Takt-Eins, um damit einen ganz besonderen Ton zu treffen:
Ein weiteres untrügliches Merkmal für den Schumann-Ton sind András Schiff zu Folge dessen Pedalangaben im Klavierwerk:
Eine Beobachtung, die wir alle gemacht haben, wenn etwa Schumanns „Kreisleriana“ op. 16 erklingen: Das Stück endet bekanntlich sehr leise, im dreifachen Pianissimo. Der Kapellmeister ist in der Ferne verschwunden, das Publikum verunsichert. Ist das Stück nun zu Ende? Darf man klatschen? András Schiff hebt diese besondere Eigenart vieler Schumannscher Klavierwerke, die eben gerade nicht publikumswirksam donnernd enden, hervor:
András Schiff hält – das ist nicht überraschend – Schumanns unkonventionelle Tempoangaben, seine poetischen Motti mancher Werke, ja den geistig-literarischen Hintergrund des Schumannschen Werks für außerordentlich wichtig und inspirierend. Was er im Falle Mozarts oder Bachs sich selbst imaginieren muss, dazu gibt Schumann dem Spieler enorme Hilfe durch seine Worttextbeigaben:
Schließlich kamen wir auf das Spätwerk Schumanns zu sprechen, das András Schiff so sehr schätzt, dass aber von vielen Pianisten gemieden wird wie die Pest. Woran das wohl liegen mag?
Zum Abschluss unseres Gesprächs kam András Schiff auf den besonderen Wert der Erstfassungen Schumannscher Klavierwerke zurück, die er oftmals für genialer hält als die von Schumann später herausgebrachten Fassungen „letzter Hand“. Schiff bringt diesen Wunsch Schumanns zur ständigen Verbesserung an fertiggestellten Werken mit Schumanns seelischer Labilität und mit dessen lebenslanger Unsicherheit in Zusammenhang:
Einer der ganz großen Schumann-Pianisten (und Dirigenten) unserer Zeit ist Christian Zacharias. Als ich das Schumann-Forum 2010 im Januar startete, war es bereits mein besonderer Wunsch, diesen Musiker zu Schumann befragen und seine Antworten online stellen zu dürfen. Im Sommer, zwischen seinen Probenterminen während der „Schubertiade“ in Schwarzenberg (Österreich) ist es mir dann tatsächlich gelungen. Wir saßen am Rande einer grünen Wiese, die Vögel veranstalteten eine große Natursymphonie (man hört es auf der Aufnahme des Interviews) und Maestro Zacharias war in bester (Gesprächs-) Laune.
Christian Zacharias und Dr. Wolf-Dieter Seiffert
Die Wiedergabe des Interviews mit Christian Zacharias im Rahmen des Schumann-Forums ist mir auch deshalb eine besondere Ehre, als der G. Henle Verlag damit Maestro Zacharias zu seinem 60. Geburtstag gratulieren kann, den er im Frühjahr dieses Jahres feiern konnte. Wie sehr die Musik Robert Schumanns im Zentrum dieses Künstlers steht, erkennt man nicht nur an seinen reichen Schumann-Konzerten und –Aufnahmen, sondern auch an seiner Mitwirkung einer französisch-sprachigen Filmproduktion aus dem Jahr 1989: „Robert Schumann – Le poète parle“.
Ich habe Christian Zacharias mehr oder weniger dieselben Fragen gestellt, die auch das intensive Gespräch mit András Schiff bestimmten. Letztlich ging es um die Frage, was so ganz besonders, so einzigartig und originell an Schumanns (Klavier-) Musik ist. Seine Antworten zeugen, wie bei Schiff, von einer unglaublich tiefgründigen Kenntnis des Schumannschen Werks. Er steht vielleicht einigen Werken Schumanns kritischer gegenüber als Schiff (zum Beispiel hält er die „Papillons“ op. 2 für noch nicht durchweg gelungen, während Schiff sie ja als Schlüsselwerk Schumanns versteht), aber nach einer Stunde Schumann-Gespräch war für mich völlig klar, dass hier ein Schumann-Besessener Auskunft über seine lebenslange Liebe gibt.
Sie, liebe Leserinnen und Leser, können das Interview exklusiv hier miterleben. Ich habe es einerseits als Abstract in Deutsch und Englisch zusammengefasst, andererseits die wichtigsten Interview-Ausschnitte (deutsch) zusammengestellt.
Bevor ich überhaupt meine vorbereiteten Schumann-Fragen ausgepackt hatte, kam er sogleich auf Schumanns Metronomangaben zu sprechen und über den Wert, diese nicht nur in Urtextausgaben zuverlässig mitgeteilt zu bekommen, sondern sie auch als Musiker sehr ernst nehmen zu müssen. Mein Beitrag zu diesem Thema im „Schumann-Forum 2010“ (das übrigens sämtliche authentischen MM-Angaben Schumanns in einer praktischen Liste anbietet) lobte er ausdrücklich in diesem Zusammenhang (siehe Artikel "Schwierigkeitsgrade"). Und weil der Henle Verlag jüngst das Klavierkonzert Schumanns im Urtext herausbrachte (siehe Artikel "Klavierkonzert") und es gerade auch bei diesem Meisterwerk bis heute zu gravierenden Missverständnissen der Pianisten kommt, was das Tempo und seine Relationen betrifft, so sprach Christian Zacharias zunächst ausführlich darüber. Hier ein Ausschnitt (inklusive Gesangseinlage), wo er über seine ersten Anläufe vor vielen Jahren spricht, die korrekten Metronomangaben entgegen der verfälschenden Tradition zu realisieren:
Das Büchlein, das Zacharias von Bruno Walter hier erwähnt, ist übrigens das bei S. Fischer vergriffene, aber im Antiquariat günstigst zu erwerbende (und sehr lesenswerte) „Von der Musik und vom Musizieren“.
Und dann ging es auch schon um die Kernfrage, was den Klaviersatz von Schumann denn so singulär macht, warum man ihm hier und da Sperrigkeit vorwirft. Zacharias hat eine verblüffende Antwort parat und er bezieht dabei nicht nur den Chopinschen (und Lisztschen) Klaviersatz vergleichend ein, sondern auch (als Dirigent) den Schumannschen Orchestersatz:
Im weiteren Verlauf des wunderbaren Gesprächs erwies sich Zacharias als ungemeiner Kenner nahezu des gesamten OEuvres Schumanns. Er zog Parallelen durch alle Gattungen und durch alle biographischen Stationen hindurch, verwies auf einzelne Stellen im Schumannschen Werk und beleuchtete sie – ich kam kaum noch hinterher. Immer wieder blitzte durch, dass er durchaus nicht jedes Werk Schumanns für meisterhaft gelungen hält. Besonders das Spätwerk sieht er (ganz anders als András Schiff) durchaus mit kritischem Blick. Also wollte ich es genauer wissen:
Ich persönlich empfinde Schumanns Pedalangaben in seinem Klavierwerk als besonders geniales Gestaltungselement, dem meiner Meinung nach noch viel zu wenig Pianisten Beachtung schenken (siehe Artikel "Vogel als Prophet"). Ich meinte Christian Zacharias gegenüber, leider habe Schumann aber auch viele Stücke nur pauschal mit „Pedal“ bezeichnet, um wie folgt unterbrochen zu werden:
Und weil Christian Zacharias in dieser Antwort vor allem auf die „Papillons“ op. 2 zu sprechen kommt, sei hier der Link zur neuen Henle-Ausgabe für weitere Informationen gegeben. Auch den in der Musikgeschichte wohl einmaligen Schluss dieses Werks können Sie in Urtextqualität studieren, wenn Sie sich die Ausgabe besorgen.
Wer jetzt Lust bekommen hat, Schumann mit Zacharias zu hören, sollte am besten in eines seiner Konzerte gehen. Aber auch auf CD hat er bereits vieles von Schumann eingespielt. Seine Klavierkonzert-Aufnahme gehört dabei für mich persönlich zum Besten, was es gibt (siehe auch „Schumann-Forum 2010“, 15. Februar). Einen besonderen Hinweis verdient dabei meiner Meinung nach auch die unglaublich preisgünstige EMI-Klavierbox mit großen Schumann-Interpreten, die im Jubiläumsjahr herausgekommen ist:
Christian Zacharias ist in dieser Box mit den „Papillons“ op. 2, den „Davidsbündler-Tänzen“ op. 6 und den „Kinderszenen“ op. 15 vertreten.
Für unser Schumann-Forum möchte ich Ihnen einen Live-Mitschnitt der „Fantasiestücke“ op. 12 von Schumann (auf YouTube) anbieten. Er ist zwar schon 20 Jahre alt (Aufnahme von 1990 eines Festivals in Frankreich) und die Tonqualität auf YouTube ist leider nicht besonders gut. Aber dem schlackenlosen, feinen, hochmusikalischen und virtuosen Zugriff von Christian Zacharias kann man sich nicht entziehen – und nur bewundern:
1. Teil: op. 12 Nr. 1 „Des Abends“ und Nr. 2 „Aufschwung“
2. Teil: op. 12 Nr. 3 „Warum?“ und Nr. 4 „Grillen“
3. Teil: op. 12 Nr. 5 „In der Nacht“ und Nr. 6 „Fabel“
4. Teil: op. 12 Nr. 7 „Traumes Wirren“ und Nr. 8 „Ende vom Lied“
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1. November 2010
Liebe Leserinnen und Leser,
gerade komme ich aus Shanghai von der internationalen Musikmesse zurück. Ich hatte in Shanghai die Gelegenheit, einen der profiliertesten chinesischen Pianisten, Hochschullehrer und Juroren internationaler Klavierwettbewerbe zu interviewen: Professor Li Ming Qiang, Hongkong. Natürlich stand die Musik Robert Schumanns im Zentrum des Gesprächs.
Prof. Li Ming Quian
Wie sieht man den deutschen Romantiker aus der chinesischen Ferne? Versteht man überhaupt seine Musik oder gibt es nur schwer überwindbare Hürden? Unser Gespräch war für mich auch deshalb sehr wichtig, weil man bekanntlich durch den Wechsel der Perspektive vieles anders, neu und frisch sehen kann. Setzt man sich gewissermaßen die chinesische Brille auf, so wird plötzlich Schumanns Musik aufregend neu erfahrbar. Davon berichtet das Interview, das Sie auf einige Statements zusammengefasst anhören können (in Englisch, aber auch mit ein paar chinesischen Sätzen) oder etwas ausführlicher in der deutschen oder englischen schriftlichen Zusammenfassung nachlesen können.
Klicken Sie HIER, um die schriftliche Version zu lesen.
Dr. Wolf-Dieter Seiffert und Prof. Li Ming Quiang
Zu Beginn des Gesprächs bat ich Herrn Li, uns einen kurzen Überblick über die aktuelle Situation der chinesischen Konservatorien zu geben. Auf meine Bitte hin, begann er seine Antwort in Mandarin, dann wechselte er zu Englisch, wobei es dann auch bis zum Ende des Gesprächs blieb:
Sehr bald sind wir dann auf Schumann und seine Klavierwerke zu sprechen gekommen. Professor Li stellte fest, dass, genau wie in den westlichen Ländern, eine Handvoll Schumann-Werke besonders populär seien, der Rest aber unbekannt. Insgesamt meinte er, sei Chopins Musik den Chinesen viel näher als Schumanns. Schumann sei eigentlich für alle Asiaten nur schwer verständlich. Warum?
Und dennoch sei die Musik der „Romantik“ insgesamt beim chinesischen Publikum (und unter den chinesischen Musikern) die bei weitem beliebteste.
Nicht ohne Stolz darf ich an dieser Stelle exklusiv für Sie berichten, dass der G. Henle Verlag zusammen mit dem Musikverlag „Shanghai Music Publishing House“ (SMPH) in diesem Jahr einen Lizenzvertrag über sämtliche Klavierwerke Schumanns in unserer neuen revidierten Ausgabe abgeschlossen hat. Im Verlauf der nächsten Jahre werden alle sechs Bände ins Chinesische übersetzt und in dieser Version (ausschließlich) auf dem chinesischen Markt angeboten. Professor Li hat an dem Zustandekommen dieser wegweisenden Lizenzvereinbarung einen nicht unerheblichen Anteil. Diese SMPH-HENLE-Ausgabe wird das Werk Schumanns zukünftig im korrekten, verlässlichen Notentext ganz entscheidend in China verbreiten.
Hier der Ausschnitt aus unserem Gespräch zu diesem vor allem für den chinesischen Musiker zukunftsträchtigen Thema:
14. November 2010
Liebe Leser,
bunte Blätter überall in den Bäumen und auf den Wegen. Jedenfalls sieht man sie hier, in der Forstenrieder Allee in München, wo der G. Henle Verlag seinen Hauptsitz hat. Bunte Blätter überall – das gibt mir für unser Schumann-Forum doch gleich das ideale Stichwort für Schumanns eher seltener gespielte "Bunte Blätter" Opus 99.
Robert Schumann, Bunte Blätter op. 99,
Erstausgabe, Robert-Schumann-Haus Zwickau;
Archiv-Nr.: 1996.23-D1;
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E i n Blatt aus Opus 99 hat es mir dabei besonders angetan, nämlich das vierte in fis-moll ("Ziemlich langsam"). Dieses will ich heute besonders intensiv für Sie betrachten. Seine Schlichtheit, gepaart mit seinem melancholischen Reiz macht dieses Blatt besonders attraktiv, finde ich. Ich bin da in guter Gesellschaft, denn auch Clara Schumann und Johannes Brahms empfanden das so; beide schrieben bekanntlich ausgedehnte Variationen ausgerechnet über dieses eine Blatt:
Clara Wieck-Schumann, [Sieben] Variationen über ein Thema von Robert Schumann ihm gewidmet, op. 20 [1853]: Urtextausgabe im G. Henle Verlag HN 393, S. 62–73
Ein Seitenhinweis für "Insider": Es existiert ein kaum bekannter Albumblatt-Eintrag von Clara Schumanns Hand "dem Fräulein Julie Schmittermeyer zur freundlichen Erinnerung", Januar 1856 (Wien) mit dem fraglichen Thema (Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Signatur: Hs 2355).
Johannes Brahms, [Sechzehn] Variationen über ein Thema von Robert Schumann. Clara Schumann gewidmet, op. 9 [1854]: Urtextausgabe im G. Henle Verlag HN 438 (Einzelausgabe)
oder HN 440 (sämtliche Variationen), S. 1–22
Beide Variationen-Zyklen erschienen übrigens zeitgleich im November 1854. Robert Schumann befand sich da schon seit gut acht Monaten in der Privatanstalt des Dr. Richarz in Endenich.
Das fis-moll-Stück (überschrieben mit "Albumblatt", weil es das erste der fünf "Albumblätter" aus Opus 99 darstellt) ist nur eine Notenseite kurz und auch gar nicht so schwer zu spielen (auf der Henle-Skala der Schwierigkeitsgrade von 1–9 bekommt es eine "4" und ist somit das leichteste Stück aus Opus 99):
» Übersicht der Schwierigkeitsgrade der "Bunten Blätter op. 99"
Beim ersten Blick auf diese Noten könnte man glauben, es handle sich um einen Choral. Die Melodie in der Sopranstimme sieht aus wie ein Kirchenlied. Sie ist getragen, ja fast monoton, und wird im Stile eines vierstimmigen Chorals ausgesetzt. Ich bin überzeugt, dass man im Kirchengesangbuch ähnliche Melodien finden wird. Aber es ist kein Kirchenlied, sondern eine Neuschöpfung Schumanns "im alten Stil".
Robert Schumann: Bunte Blätter op. 99,4
Choralhaft wirkt auch das Gleichmaß der Aneinanderreihung von jeweils vier Takten in einer schlichten A – B – A-Form: | 4+4 |: 4+4 + 4+4 :|
Das Choralidiom zusammen mit dem sehr einfachen formalen Bau wirkt "altertümlich" auf uns, wie ein Zitat aus einer früheren, längst vergangenen Zeit. Und damit nicht genug. Schumann bedient sich im ersten "Albumblatt" zusätzlich noch des Gestus der (barocken) Gavotte. Dieser üblicherweise rasche, hier wie in Zeitlupe eingefrorene Tanz ist vor allem durch sein metrisches kurz – kurz – lang gekennzeichnet. Ist nicht auch "Der Dichter spricht" (die letzte Nummer der "Kinderszenen" op. 15) in dieser Hinsicht eine Schwester unseres Albumblattes?
Vielleicht war das Gavotte-"Idiom" übrigens auch die hauptsächliche Motivation für Clara Schumann und vor allem für Johannes Brahms, ausgerechnet über dieses Albumblatt Variationen zu verfassen; denn einerseits war die Gavotte schon zu Bachs Zeiten eine beliebte Vorlage für Variationen und andererseits liebte vor allem Brahms bekanntlich die Variation über alte Formen.
Ich sagte oben, das Albumblatt in fis-Moll Stück übe in seiner Melancholie einen besonderen Reiz auf mich aus. Mir will scheinen, gerade Schumanns Rückbezug zu der alten Form der Gavotte und des Chorals sind ein wesentlicher Grund dafür. Das Entscheidende, das Raffinierte des Stücks, liegt aber in der Kombination des Alten mit dem ganz Neuen. Und dies Neue liegt in der Harmonik. Schumann kombiniert nämlich die immer gleiche, fast formelhaft wiederholte Melodie des A-Teils mit jeweils unterschiedlich akkordischem (harmonischem) Unterbau. Das ist verblüffend in der Wirkung, denn es beleuchtet die simple Melodie immer wieder in neuem Licht, in neuer "Farbe": Im ersten Viertakter verharren wir in fis-moll, beim zweiten geht es von fis-moll nach A-dur, beim dritten (= T. 17–20) geht es von dem verminderten Septakkord über ais kadenzierend nach A-dur, und zu guter Letzt folgt nochmals das fis-moll der ersten vier Takte. Mit immer derselben viertaktigen Melodie darüber. Verblüffend, oder?
Und dann sind da die Sept- oder Nonakkorde jeweils im Schwerpunkttakt 2, 6, 18 und 22. Spielen Sie doch einmal die ersten vier Takte und lassen Sie besonders diese "Takt-Zwei" auf sich wirken. Sie spüren dann plötzlich im schreitenden Gleichmaß der Gavotte die wohltuend scharfe Dissonanz des Akkordes.
Dieses harmonische Gewürz, sozusagen, müssen Sie in vollen Zügen genießen – dann bekommt das ganze kleine Stück Größe und Tiefe. Denn just dieser Akkord ist der mehrfach wiederholte kleine Höhepunkt im Binnengeschehen des Satzes: Für diesen kurzen Augenblick bleibt die Bewegung jeweils auf dem punktiertem cis2 stehen – und im Bass hören wir ein d (große Septime) oder ein h (große None) – schärfste Dissonanzen, eigentlich. Man hält den Atem an. Der traditionelle vierstimmige Choralsatz wird genau durch diesen "falschen" Basston harmonisch stark angereichert. Denn alle übrigen Stimmen im Akkord verhalten sich norm- und erwartungsgerecht. Dadurch entstehen an diesen Stellen die in Barock und Klassik undenkbaren, weil schlicht satztechnisch falschen vierstimmigen Akkorde. Für mich sind es genau diese vierstimmigen Akkorde (Dreiklang mit großer Sept oder großer None) das Spannende an diesem Stück. Sie werden geradezu autonom, als eigengültiger Klang gesetzt, noch dazu jeweils und immer im metrisch betonten Zentrum der Taktfolge. Und meiner Meinung nach sind es auch genau diese Sept- oder Non-Akkorde die neben dem "altertümlichen" Rahmen der choralhaft-langsamen Gavotte das melancholische Element hineintragen; denn sie färben den "reinen" Dreiklang sanft ein, indem sie einen an sich störenden fremden, vierten Ton sehr stimmungsvoll integrieren. Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, das nicht als melancholisch empfinden sollten, dann werden Sie mir aber doch Recht geben, dass diese Färbung des Dreiklangs fis-moll durch den Bass-Zusatz von d oder h im übertragenen Sinne etwas mit "Bunten Blättern", nämlich mit "Chromatik", also mit Verfärbung zu tun hat.
Würde man diesen dissonanten Akkord übrigens mit dem üblichen Handwerkszeug der "Harmonielehre" analysieren, würden sicher Begriffe wie "Trugschluss", "Mediante", Vorhaltston oder VI. Stufe fallen. Das ist ja alles fraglos richtig, sagt aber doch noch gar nichts über die konkrete Wirkung (!) in unserem Stück aus. Oder?
Eine abschließende Beachtung verdient der verminderte Akkord in Takt 17 mit seiner "Auflösung" in den verfärbten fis-moll-Akkord in Takt 18. Das ist ein geradezu mystischer Moment. Dieser verminderte Akkord (T. 17) ist auch der einzige im ganzen Stück, der von Schumann explizit mit einem Halte-Pedalzeichen versehen ist. Und zwar nicht allein, um die Vorschlagsnote ais der linken Hand in den Akkordklang zu integrieren (der Akkord wäre ja ohne Pedal nicht zu greifen), sondern auch, um diesen besonders sphärischen verminderten Klang mit gedrücktem Pedal klanglich abzusetzen. Denn wenn man nicht sehr genau hinhört, bemerkt man gar nicht, dass genau an dieser Stelle die Wiederholung des A-Teils beginnt. Der verminderte Akkord verfärbt und vertuscht damit erneut den an sich äußerst simplen Melodieverlauf.
Genau durch diese Färbungen wird das kleine Albumblatt aus Opus 99 so ungemein attraktiv und es passt so wunderbar in die leicht melancholische Herbststimmung, der wir uns mit Schumann nun hingeben wollen, wenn wir uns das Stück anhören. Es wird gespielt von Mikhail Pletnev, einem großen Schumann-Pianisten, dessen Spiel ich immer als ganz besonders aufregend und anregend empfinde ("aufregend" übrigens im doppelten Wortsinne: Zwar ist jeder einzelne Ton bei ihm erfüllt mit Leben und Tiefe, vieles ist aber meines Erachtens sehr eigenwillig, fast trotzig gespielt, besonders in der Hervorhebung polyphoner Stimmenverläufe). Unser Albumblatt spielt er jedenfalls zum Hinknien schön und richtig:
1. Dezember 2010
Robert Schumann starb am 29. Juli 1856 im Alter von 46 Jahren, also auch für damalige Verhältnisse viel zu jung. Als "Spätwerk" wird man also Werke seiner letzten Lebensjahre, sagen wir ab etwa 1850, nur relativ bezogen auf seine (kurze) Lebensspanne bezeichnen können. Oder macht sich gerade in diesen "Spät"-Werken ein neuer Ton bemerkbar, etwas, was man als "Altersstil" bezeichnen könnte? Und: Inwieweit spielt Schumanns Geisteskrankheit in diesen Fragekreis hinein? Besondere Publikumsmagnete sind die Werke aus Schumanns letzten Lebensjahren (ganz im Gegensatz zum "Frühwerk") sicherlich nicht. Das muss seinen Grund haben.
Nun, diese Fragen sind ja durchaus nicht neu. Sie werden spätestens seit den 1980er-Jahren in der Musikwissenschaft intensiv diskutiert. In jüngerer Zeit setzen sich immer mehr Musiker insbesondere für Schumanns "Spätwerk" stark ein. Man kann heute, Ende 2010, wohl die Behauptung wagen, zu einem Großteil seien auch diese Schumann-Kompositionen "rehabilitiert", wenn auch noch nicht weit genug verbreitet und bekannt.
Auch in unserem "Schumann-Forum" kamen zu dieser Thematik in den vergangenen Monaten zahlreiche Musiker zu Wort. Treue Leser des Forums werden sich erinnern (die anderen können es gerne nachlesen), dass die Meinungen hier durchaus erheblich auseinander gehen. Das reicht von Gerhard Oppitz' Bemerkung: "Genialisch, visionär, enigmatisch" bis zu Christian Zacharias: "Schumanns Spätwerk für Klavier ist für mich befremdlich".
Erschwert wird eine nüchterne Betrachtung solcher möglicher Gründe freilich durch die bekannten bedrückenden und traurigen Umstände von Schumanns Dahinsiechen und schließlich Sterben in der privaten Heilanstalt des Dr. Franz Richarz in Endenich. Unter Medizinern besteht weitgehend Einigkeit, dass Schumann in seinen letzten Jahren an einer progressiven Paralyse einer früh erworbenen (1831) syphilitischen Erkrankung litt.
An diesem Konsens wird wohl auch die zurzeit kontrovers diskutierte These von Uwe Peters nichts ändern, der mit einem bewährten Taschenspielertrick die Vielzahl an völlig eindeutigen Dokumenten (Tagebücher, Briefe, Berichte) gewaltsam uminterpretiert und letztlich zum "spektakulären" Ergebnis kommt, Schumann sei nicht geistes-, sondern schlicht alkoholkrank gewesen und schließlich von seiner Frau Clara ins Irrenhaus nach Endenich abgeschoben worden.
Die Nervenheilanstalt in Endenich bei Bonn um 1850
Faktum ist jedenfalls, dass Werk und Krankheit bei Schumann immer noch eine besonders unselige Verquickung erfahren, nach dem Motto: Von einem Geisteskranken kann man eben nicht mehr erwarten.
Für unser "Schumann-Forum" führte ich zu diesen komplexen Fragen ein Gespräch mit Hans-Joachim Kreutzer. Dieser höchst anregende Gesprächspartner hat den ungemeinen Vorteil, dass er weder zu den musikwissenschaftlichen Apologeten des Schumannschen "Spätwerks" zählt, noch zu den Musikern, die sich ja als Aufführende mit mehr oder weniger guten Argumenten für ein "pro" oder "contra" entscheiden müssen. Herr Kreutzer, ein großartiger Laienmusiker im allerbesten Sinne, ist ein international hoch angesehener Germanist und war Ordinarius an der Universität Regensburg sowie Präsident der Kleist-Gesellschaft. Kreutzer hat zahllose Beiträge aus der Schnittmenge zwischen Germanistik und Musikwissenschaft verfasst. Vor allem aber – sagt der Redakteur des Schumann-Forums – ist er ein intimer Kenner des Werkes von Robert Schumann.
Das auf einige wesentliche Kernaussagen Kreutzers zu Schumanns "Spätwerk" gekürzte Audio-Interview (in Deutsch) können Sie im Folgenden anhören. In Form einer schriftlichen Zusammenfassung (Deutsch oder Englisch) können Sie es aber auch hier nachlesen und ausdrucken.
Dr. Wolf-Dieter Seiffert und Prof. Hans-Joachim Kreutzer
Frage: Herr Kreutzer: Benutzen Sie im Falle Schumanns überhaupt das Wort "Spätwerk" und warum?
Frage: Inwieweit teilen Sie die weit verbreitete Ansicht, Schumanns Werke aus seinen letzten Lebensjahren seien geprägt von seiner Erkrankung und war das eigentlich von Beginn an die Ansicht des Publikums?
Frage: Sie erwähnten insbesondere Schumanns Harmonik, die sich im "Spätwerk" merklich gegenüber früher verändert. Können Sie das noch für uns präzisieren?
Frage: Neues, Unerwartetes – ist das ein Merkmal für Schumanns "Spätwerk"? Und welche Art von Neuartigem fällt Ihnen dazu ein?
Question: Which pieces impress you most in these regards?
Frage: Welche Werke des späten Schumann spielen oder hören Sie besonders gerne und warum?
Frage: Gibt es späte Werke des späten Schumann, die sie als letztlich "misslungen" bezeichnen würden?
Question: What is the reason that many musicians still tend to avoid playing Schumann's "late works"? Do they cater to the "large audiences" that prefer to hear the "Davidsbündlertänze" rather than "Gesänge der Frühe"?
Lieber Herr Kreutzer, haben Sie sehr herzlichen Dank für unser schönes Gespräch.
Liebe Leser, zum Beschluss darf ich Ihnen noch einen Link auf eine historische Aufnahme des Violinkonzerts von Robert Schumann anbieten. Das Beispiel ist zwar aufnahmetechnisch alles andere als befriedigend, aber diese Aufführung bewegt (mich) umso tiefer, als Georg Kulenkampff hier Schumanns Spätwerk nach fast 100-jährigem Tiefschlaf wachküsste (Erstaufführung und Einspielung). Dass er recht frei in Schumanns Notentext eingriff, sei ihm angesichts der wahren künstlerischen Größe, die sein Schumann-Spiel ausdrückt, gerne nachgesehen:
Georg Kulenkampff, Violine, Berliner Philharmoniker, Hans Schmidt-Isserstedt (1937)
Schumann, Violinkonzert d-moll, 1. Satz (Teil 1 und 2):
15. Dezember 2010
Liebe Leserinnen und Leser,
lesen Sie eigentlich gerne die Tagebücher und Briefe anderer? Je intimer es dort zugeht, desto besser? Meine provokante Frage hat folgenden einfachen Hintergrund: Als Schumann-Enthusiast ist mir die Überfülle seiner privaten und privatesten Zeugnisse, die er hinterlassen hat, höchst willkommen. Er schrieb Tagebücher, Ehetagebücher, Haushaltbücher, Briefe und Notizen – und: er hob das alles peinlich sorgfältig (für die Nachwelt) auf.
Aber andererseits: Immer wieder beschleicht mich ein Gefühl begangener Indiskretion, der Verletzung der Privatsphäre, wenn ich die (hervorragend von Gerd Nauhaus edierten und kommentierten) Dokumente lese. Außerdem frage ich mich, wie nah ich eigentlich wirklich dabei diesem Großen der Musikgeschichte komme. Und selbst wenn: Als Mensch interessiert mich Schumann doch nicht eigentlich, sondern vor allem als Schöpfer seiner göttlichen Kompositionen.
Und dann erschien 2006, herausgegeben von Bernhard R. Appel, der Krankenbericht aus der Endenicher Heilanstalt. Die ausgebreiteten Dokumente sind erschütternd. Peter Härtling hat in seinem wunderbaren Roman "Schumanns Schatten" daraus literarisches Gold gewonnen, aber die nackten Tatsachen über Schumanns Verdämmern im Irrenhaus wollen wir doch nicht wirklich wissen; wir sollten nicht mehr hinsehen.
Diese Gedanken schicke ich meinem letzten Kapitel des "Schumann-Forums 2010" voraus, denn es soll heute um Schumanns Thema und Variationen in Es-Dur ("Geistervariationen") gehen, sein letztes vollständiges Werk, unmittelbar vor der Selbsteinweisung nach Endenich.
Ich habe dieses äußerlich unscheinbare Stück, seit ich es kennenlernte und dann im G. Henle Verlag 1995 in einer, nein der ersten und bislang einzigen Urtextausgabe edieren durfte, sehr in mein Herz geschlossen. (Es ist wunderbar zu beobachten, wie es seither immer häufiger aufgeführt und eingespielt wird, zumal es davor kaum jemand kannte.)
Weitere Ausgaben dieses Titels
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Es ist hier nicht der Ort, auf die bewegenden privaten Umstände der gut belegten Entstehungsgeschichte dieses letzten Schumann-Werks einzugehen. Bitte nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit, um folgenden Ausschnitt aus einem sehr gelungenen, vor wenigen Monaten erschienenen Hörbuch (deutsch) anzuhören. Das Kapitel heißt "Unter Geistern" und fasst das tragische Geschehen zusammen:
aus: Das SCHUMANN-Hörbuch – Leben in der Musik, Eine klingende Biografie von Corinna Hesse - mit zahlreichen Zitaten von Schumann und seinen Zeitgenossen sowie über 50 Musikbeispielen. Sprecher: Dietmar Mues und Anne Moll, Silberfuchs-Verlag
Ich hatte das große Glück, gleich zu Beginn meiner Tätigkeit Anfang der 1990er-Jahre als Lektor im G. Henle Verlag von dem Münchener Autographen-Sammler und wahren Schumann-Enthusiasten Walter Beck eingeladen zu werden. Zusammen mit meinem Freund Michael Struck, schon damals einer der besten Schumann-Kenner, präsentierte uns Beck zu unserem Erstaunen das verschollen geglaubte vollständige Autograph der "Geistervariationen". Er wollte eine Faksimile-Ausgabe mit esoterischem Begleittext dazu herausbringen. Ich verfasste damals eine genaue Chronologie der Ereignisse, wollte mich aber nicht auf die esoterischen (von Rudolf Steiners Lehre geprägten) Aspekte einlassen, weshalb Beck das Faksimile schließlich (unter ungekennzeichneter Verwendung meiner Texte) woanders veröffentlichte. Weder die Reproduktionsqualität noch der Begleittext können hierbei wirklich überzeugen.
Der für meinen Verlag entgangene wunderbare Faksimiletitel wurde aufgewogen durch die Urtextausgabe, die wir dank des Autographen-Zugangs nun anfertigen konnten. Ich war Feuer und Flamme für die Sache. Denn schon der erste flüchtige Vergleich des Schumann'schen Autographs mit der damals einzig existenten Druckausgabe des Werks (= Karl Geiringers verdienstvolle Erstausgabe von 1939) zeigte sofort an vielen Stellen zum Teil gravierende Abweichungen.
Ein Eintrag Clara Schumanns über bezahlte Kopiaturkosten für die Es-dur-Variationen Schumanns im Haushaltbuch (April 1855) bewies mir, dass Schumanns Autograph professionell abgeschrieben worden war (wie gut, dass wir die Haushaltbücher haben). Vielleicht war diese Abschrift zu Schumann nach Endenich geschickt oder gar durch Brahms ihm überbracht worden? Ich machte mich auf die Suche und wurde schnell in der bedeutendsten Brahms-Bibliothek der Welt fündig: Die Bibliothek der "Gesellschaft der Musikfreunde in Wien" besitzt tatsächlich diese Abschrift und nach dem Studium dieser bislang unbekannten Quelle war schnell klar, dass sie handschriftliche Korrekturen (wahrscheinlich auch) von Schumann enthält, hier und da hilft sie, die teilweise schwer leserliche Handschrift des Autographs zu entziffern und schließlich konnte ich nachweisen, dass die Wiener Abschrift als Druckvorlage für Geiringers Erstausgabe diente (der hier und da verändernd eingriff).
Nach mühevoller Vergleichsarbeit konnte ich damals erstmals den korrekten Notentext der "Geistervariationen" herstellen. Seither liegt die Urtextausgabe vor. Die Fülle an zusammengetragenen Informationen sprengte den Rahmen einer normalen Urtext-Kommentierung im G. Henle Verlag. Also schrieb ich einen Aufsatz, der alle Informationen, entstehungs-, werk-, quellen- und textgeschichtlicher Art zu den "Geistervariationen" zusammenträgt. Meinen besonders intensiv interessierten Lesern des Schumann-Forums 2010 kann ich an dieser Stelle den Download dieses umfangreichen Textes anbieten.
» Aufsatz zum Download (PDF, 9 MB)
Wolf-Dieter Seiffert: Robert Schumanns Thema mit Variationen Es-Dur, genannt "Geistervariationen", in: Compositionswissenschaft. Festschrift Reinhold und Roswitha Schlötterer zum 70. Geburtstag; herausgegeben von Bernd Edelmann und Sabine Kurth, Augsburg [Verlag Wißner, ISBN 978-3896391704] 1999, Seiten 189-214.
Mit diesem "Abschied in Es" (der Titel ist einem Vortrag entliehen, den Michael Struck, Bordesholm, im April 2010 auf dem Leipziger Schumann-Kongress über die "Geistervariationen" hielt) verabschiede ich mich von Ihnen, liebe Leser, und schließe das Schumann-Forum 2010. Das ganze Jahr hindurch, alle 14 Tage hatte ich die Freude und das Vergnügen, mich für Sie mit Schumann-Aspekten zu befassen, meist mit der Brille des Verlagsleiters des G. Henle Verlags auf der Nase.
Ich danke den zahlreichen Lesern, die regel- oder unregelmäßig neugierig nachsahen, was es Neues gab, allen, die sich die Mühe machten, mir auf dies und das Ihre Meinung zu senden und Ihnen allen, die vielleicht auch nach Ablauf des "Schumann-Jahres" 2010 hier wieder vorbeischauen und sich über Schumann informieren und unterhalten lassen. Statt eines (der sonst üblichen) YouTube-Links heute ein Ausschnitt aus dem Schlusskapitel von: Peter Härtling, Schumanns Schatten (München [dtv] 92010, S. 383 f.):
Alle andern traten zu Seite. Schumann hat sie sofort erkannt. Und er ist doch wirklich schon aus der Welt gewesen. Er hat die Arme gehoben, wieder sinken lassen und wieder gehoben und sich im Bett aufgesetzt. Sie hat sich neben das Bett gekniet. Ihr Kleid raschelte. Wieder hat er die Arme gehoben, sehr langsam, gegen ein großes Gewicht, und sie umarmt. Lange haben sie sich in den Armen gelegen. Das ist wahr. Die anderen haben den Atem angehalten. Und ich habe nicht mehr hingesehen.
Robert und Clara Schumann